Die Zahlenfrau
Ein Zertifikat (Symbolbild) Quelle: imago images

Zertifikate lösen keine Probleme

Unsere Welt entwickelt sich rasend schnell – so schnell, dass alte Systeme manchmal nicht hinterherkommen. Wir benötigen in Deutschland eine Revolution des Bildungssystems und müssen uns vom starren Festhalten an zertifizierte Fähigkeiten lösen.

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Wenn ich früher an deutsche Städte dachte, die eine junge Gründerszene etablieren und aktuelle Themen wie Künstliche Intelligenz vorantreiben, hatte ich direkt einige Ideen im Kopf: Vielleicht Berlin oder München – als internationale Metropolen – oder Frankfurt – als Finanzzentrum Deutschlands.

Tatsächlich wurde ich vor einigen Wochen mal wieder eines Besseren belehrt: Im Süden Deutschlands schlummert eine Stadt, die zwar leider Gottes noch nicht an das ICE-Bahnnetz angebunden ist, aber dafür im Bereich Start-up, Tech und KI ganz groß im Kommen ist: Heilbronn.

Das neue europäische KI-Ökosystem?

Anlass dieser Erkenntnis war meine Teilnahme an der Slush’D 2023, einem internationalen Start-up-Festival, bei dem mehr als 1000 Gäste aus aller Welt zusammenkamen und sich über Innovationen in der Gründerszene und neuste Entwicklungen ausgetauscht haben. Ein weiterer Fokus lag dieses Jahr auf einem Bereich, der seit der Einführung von ChatGPT in aller Munde ist: Künstliche Intelligenz (KI).

Bei dem Event wurde mir deutlich: Heilbronns Gründerszene ist zwar noch sehr jung, entwickelt sich aber rasant und hat tatkräftige Unterstützer:innen. So wird das heilbronn´sche Ökosystem maßgeblich durch die Schwarz Stiftung (Dieter Schwarz, Gründer von Lidl) finanziert und vorangetrieben.

Zusätzlich gibt das KI-Start-up Aleph Alpha der Region gerade zusätzlichen Aufschwung, denn es hat sich in den letzten Monaten zur großen Tech-Hoffnung Europas entwickelt. Der Gründer des Heidelberger Unternehmens, Jonas Andrulis, war selbst auch auf der Slush’D anwesend und sprach auf der Bühne. Zahlreiche namhafte Investor:innen von SAP über Christ&Company und Bosch bis hin zur Schwarz Gruppe haben 500 Millionen Dollar in sein Unternehmen investiert und somit das neu entstehende KI-Ökosystem gestärkt.

Ich bin der Meinung, dass wir in Deutschland definitiv ein solches Ökosystem brauchen, in dem wir Innovationen in der Gründerszene, vor allem in Kombination mit KI, fördern. Es ist ein tolles Zeichen, dass wir uns hierbei nicht nur auf die Politik verlassen, sondern es proaktive Unternehmer:innen gibt, die die Entwicklung eines solch technologiefreundlichen Umfelds vorantreiben. Viel zu lange haben wir uns auf alten Systemen, dem „Made in Germany”-Qualitätssiegel ausgeruht und sind nun dabei, den Anschluss am internationalen Wettbewerb zu verpassen. Wie schaffen wir es also, wieder mehr Top-Talente zu fördern und uns weiterhin als innovative Wirtschaftsnation zu positionieren?

Deutschland und seine Zertifikate

Meiner Meinung nach liegt ein Grundproblem in der starken Tendenz, unser Können zertifizieren zu wollen, anstatt Praxis-Talente anzuerkennen. Es hierzulande reicht einfach nicht, ein KI-Talent zu sein. Dieses Talent hat man gefälligst mit Schulungen, Fort- oder Weiterbildungen, am besten noch mit einem Studium oder einer Ausbildung in genau diesem Bereich zu belegen. Ob man Zugang zu diesen Studienprogrammen hat, entscheidet wiederum der Notenschnitt nach Beendigung der Schule. Das gesamte Bildungssystem in unserem Land ist heute noch, wie vor 50 Jahren, darauf ausgelegt, zu beweisen, welche Disziplinen, die einen für bestimmte Jobs qualifizieren, man gut beherrscht. Wer das aufgrund fehlender Zertifizierungen nicht kann, dem wird der Zugang meist verwehrt.

Dieser Ansatz ist für mich im Tech-Bereich nicht mehr praktikabel: Zum einen verlieren wir dadurch Talente, die sich beispielsweise das Programmieren selbst beigebracht haben, anstatt ein Studium in diesem Bereich vorweisen zu können. Zum anderen ist unsere Welt im ständigen Wandel: Der Einsatz von KI entwickelt sich so schnell weiter, dass es meiner Meinung nach sogar hinderlich ist, vorauszusetzen, erst einmal eine jahrelange Ausbildung machen zu müssen, um sich im Unternehmenskontext damit beschäftigen zu dürfen.

Natürlich brauchen wir Fachwissen, um gezielt komplexe Situationen lösen zu können. Niemand erwartet, dass jede:r Freiwillige morgen als Richter:in agieren darf, weil er oder sie von Natur aus so einen guten Gerechtigkeitssinn mit an den Tisch bringt. Aber wir müssen auch erkennen, dass für andere Bereiche das Fachwissen auch „on the go“ erworben werden kann und eben nicht zwangsläufig ein Zertifikat benötigt wird.

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