Eigentlich war es eine ganz normale Situation - so wie sie wohl jeden Tag in deutschen Büros vorkommt. Eine Mitarbeiterin und ihr Chef plaudern über das Fernsehprogramm. Doch dann, mit nur einer Bemerkung, wird aus einem harmlosen Gespräch sexuelle Belästigung. Die Kollegin solle nicht so viel RTL gucken, sagt der Chef. Sondern sich lieber mal wieder bumsen lassen. Dann könnte sie auch auf das Programm des Privatsenders verzichten. In den nächsten Wochen musste die Frau noch weitere Sprüche dieser Art schlucken. Bis sie schließlich keinen anderen Ausweg mehr sah und kündigte.
Mit diesen Erfahrungen steht die Frau auf Deutschlands Büroetagen nicht allein da. Eine aktuelle Studie, die vom Sozialwissenschaftlichen Umfragezentrum Duisburg (SUZ) im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) durchgeführt wurde, zeigt: Mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland hat schon einmal sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt oder beobachtet.
Sexismus: Regeln für Anstand im Büro
Chefs sind verantwortlich für das Büroklima. Umso wichtiger, dass sie alle fair behandeln, egal, ob Mann oder Frau.
Berührungen zwischen Chefs und Mitarbeitern sind unangebracht. Auf den Schulterklopfer verzichten Sie besser.
Bei Gesprächen besser einen neutralen Zeugen hinzuziehen.
Auch gut gemeintes, persönliches Lob kann leicht umgedeutet werden.
Schmeicheleien und Komplimente sind in Büro, Betrieb und Kantine tabu.
Unternehmen sollten in Führungskräfte-Coachings sexuelle Belästigung thematisieren.
Meidet jemand einen Kollegen bewusst? Das kann ein erstes Indiz sein – nicht jeder meldet Belästigung sofort.
Erfahren Vorgesetzte von einer sexuellen Belästigung in ihrer Abteilung, sollten sie es ernst nehmen – ohne voreilig zu urteilen.
Bestätigt sich ein Verdacht, müssen Sie ungebührliches Verhalten sanktionieren – bis hin zur Kündigung.
Nach einem Übergriff den Vorfall im Team besprechen, ohne die Privatsphäre des Betroffenen zu verletzen.
„Der Arbeitsplatz ist der Kontext, in dem am häufigsten sexuelle Belästigung vorkommt. Das hat sicher auch etwas mit den dort herrschenden Abhängigkeitsverhältnissen zu tun“, sagt Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle.
Alles eine Frage der Definition
Ein großes Problem: Häufig werden sexuelle Belästigungen von den Betroffenen gar nicht als solche erkannt. So gaben erst nur 17 Prozent der befragten Frauen und sieben Prozent der Männer an, schon einmal am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden zu sein. Nachdem ihnen jedoch die offizielle Definition vorgelegt wurde, änderte sich die Datenlage dramatisch.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) definiert sexuelle Belästigung als "unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen", die die Würde der betreffenden Person verletzen - "insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird". Dazu gehören obszöne Witze ebenso wie sexuelle Anspielungen. Ungewollte Berührungen genauso wie Nacktfotos im Büro.
Anschließend gaben 52 Prozent der Beschäftigten an, solche Belästigung bereits erlebt zu haben. Überraschend: Der Anteil war unter den Männern höher als bei den Frauen. So wurden 49 Prozent der weiblichen Studien-Teilnehmern am Arbeitsplatz belästigt. Bei den männlichen waren es hingegen 56 Prozent.
Laut Studie erleben Frauen deutlich mehr physische Belästigungen als Männer. Männer berichten eher über anzügliche E-Mails oder zweideutige Bemerkungen. Absender der zweideutigen Botschaften und körperlichen Übergriffen waren bei beiden Geschlechtern meistens Männer.
Arbeitgeber sind gefordert
Doch wie schützt man sich vor Missbrauch im Büro? „In jedem Führungskräftecoaching sollte sexuelle Belästigung thematisiert werden. Denn nur sensible Führungskräfte können ihren Mitarbeitern einen respektvollen Umgang vermitteln“, sagt Christine Lüders.
Aber sie wünscht sich auch eine bessere Aufklärung. So wussten zwar 92 Prozent der Befragten, dass sexuelle Belästigung verboten ist. Aber 81 Prozent der Befragten war nicht bewusst, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, sie vor sexueller Belästigung zu schützen. Unwissenheit besteht auch im Bezug auf die richtigen Ansprechpartner: So wussten 70 Prozent der Befragten nicht, an wen sie sich im Fall der Fälle in ihrem Unternehmen wenden sollten.
„Sexuelle Belästigungen können traumatische Folgen für die Betroffenen haben – nicht zuletzt deshalb sind die Arbeitgeber gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Mitarbeitenden zu schützen“, sagt Christine Lüders. „Dass die Beschäftigten so wenig über ihre Rechte aufgeklärt sind, ist ein unhaltbarer Zustand“.