Wenn früher etwas so richtig daneben ging, dann dachten und sprachen die Leute, „der Teufel ist dran schuld“. Brach die Achse der Kutsche, starb der Kronprinz zu früh, brannte die Kathedrale und tobte die Pest – stets lag es am Leibhaftigen und nicht an den Menschen, die zündelten. Die litten zwar und starben häufig, statt sich zu waschen und nüchterne Analysen zu betreiben, aber sie waren, rein moralisch betrachtet, dank Satan aus dem Schneider.
Seither hat sich einiges geändert. Aber leider noch nicht genug. Heute sind es die allgegenwärtigen Umstände, die uns zusetzen. Des Satans neue Kleider, das ist das System.
Wir würden ja wirklich gerne unsere Kreativität, unser Wissen, unser Können, unsere ganze Persönlichkeit auf die Piste bringen – und zwar voll! – aber das System! Was kann man da schon machen?
Es gibt eine Volksweisheit, und die lautet: Dummstellen schafft Freizeit. Wer würde heute nicht davon Gebrauch machen?
Dummstellen schafft nicht nur Freizeit, sondern auch jene verantwortungsfreien Zonen, die uns überall begegnen, vorzugsweise im immer größer werdenden öffentlichen Raum. Dort, in kaputten Öffis und zerstörten Gemeinschaftsräumen, weiß man sofort, was Jean-Paul Sartre meinte, wenn er sagte: „Die Hölle, das sind die anderen“.
Raus aus der Opferrolle
Was uns der Meister damit sagen wollte: Wenn die Hölle die Anderen sind, dann besteht die aus Menschen, aus Fleisch und Blut, aus lebenden Wesen, die wir in Büros, Supermärkten und auf Familienfesten treffen. Wenn Menschen sich bei solchen Gelegenheiten schlecht benehmen, wäre es sinnvoll, sie direkt und klar darauf anzusprechen und im Wiederholungsfall Sanktionen einzuleiten. Aber es ist natürlich bequemer, all die Nervensägen gewähren zu lassen, nichts zu sagen und dann zu Hause oder unter Freunden zu nörgeln: „Das ist das System“. „Die sind so geworden, wegen der Umstände“. „Ginge es gerechter zu, dann wäre es nicht so.“
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Alles Opfer. Aber echt.
Es gibt arme Leute, kranke Leute, Menschen, die weit mehr Hilfe nötig hätten, als sie tatsächlich bekommen. Aber es gibt auch viele Mutlose, Maulhelden, Feige und Couragefreie. Wegseher, wenn jemand in Schwierigkeiten gerät, Weghörer, wenn jemand Hilfe braucht. Wegdenker, wenn das Gedachte zu unangenehm wäre für das Weitermachen.
Diese Leute erkennt man an ihrem Systemgerede an der Fülle der billigen Ausreden. Ständig muss man sie fragen, wie es ihnen geht, und tut man es, dann sagen sie: „Frag nicht!“ Sie sind eigentlich gern das Rädchen im Getriebe. Dummstellen schafft Freizeit, die unverdiente Opferstellung auch.
Der Soziologe Georg Vobruba, Professor an der Universität Leipzig, pflegte Studierenden, die gegen das System wetterten, die Frage zu stellen, ob sie denn das System persönlich kennen würden, wissen, wo es wohnt und wie es heißt, und ob es nicht vielleicht mal möglich wäre, das System zu fragen, ob es in eine Vorlesung kommen könnte – das wäre ja eine tolle Gelegenheit, die unterschiedlichen Standpunkte mal auszutauschen!
Wege aus der Tiefstapelei
Schreiben Sie, welche Erfolge Sie bisher erreicht haben! Sie können solche Aufgaben jederzeit wieder meistern – denn Sie haben das Talent dazu.
Nur weil Sie sich in gerade diesem Moment vielleicht inkompetent fühlen, sind Sie das noch lange nicht. Machen Sie sich bewusst, dass Ihre Gefühle keine Fakten sind.
Reden Sie mit Menschen, denen Sie vertrauen. Teilen Sie mit, dass Sie ängstlich sind. Sie werden auf Verständnis treffen. Und viele Dinge sind nur noch halb so schlimm, wenn man sie beim Namen nennt.
Versetzen Sie sich in die Lage eines Sportlers, der sich zu Beginn eines Wettkampfs vorstellt, wie er auf dem Treppchen steht und die Goldmedaille umgehängt bekommt. Stellen Sie sich vor, Sie hätten die vor Ihnen liegende Aufgabe bereits gemeistert und dass Ihnen die Leute sagen, wie gut Sie sind.
Kein Mensch ist perfekt. Sie nicht. Und auch Ihr Chef nicht. Vergegenwärtigen Sie sich das. Und stellen Sie realistischere Anforderungen an sich selbst.
Nehmt es persönlich, wenn etwas nicht klappt
Wenn man vom Teufel spricht! Und schon war Ruhe. Und schon konnte das Gespräch und auch der Diskurs endlich über Konkretes gehen, über echte Probleme von echten Menschen. Das Systemgeschwafel bringt nichts. Wer was ändern will, und da gäbe es schon einiges, muss erstmal konkret werden. Kein Schicksal, kein Satan, kein System. Stattdessen: Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung. Was kann ich tun? Was lässt sich machen?
Nehmt es persönlich, wenn etwas nicht klappt, nicht gehen soll, was kaputt geht, jemand betroffen ist. Nehmt es persönlich, wenn Dinge nicht funktionieren und wieder mal das „Geschlossen“ Bild an irgendeinem Teil der Republik hängt. Ganz gleich, ob das nun die Bahn ist oder ein Amt oder ein Unternehmen. Es ist nicht das System. Es sind die guten und die bösen, die faulen und die fleißigen, die mitfühlenden und die gleichgültigen Menschen, und sie alle haben einen Namen, eine Adresse und überhaupt keinen Grund, sich auf ein System, ein Schicksal oder sonstwas rauszureden.
Es läuft nicht? Dann klagt das an und ändert es.
Satan, Schicksal, Vorsehung, System – all das ist voraufklärerischer Unfug, der jedem Menschen mit einem Funken Bildung, aufgewachsen mit elektrischem Licht und dem Internet, eigentlich die blanke Empörung ins Gesicht zaubern müsste.
Dass das so selten geschieht, ist der eigentliche und wahrscheinlich einzige Fehler im System.
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