Als ich vor 20 Jahren als Redakteur anfing, gab es viele Geschichten über die Krise und dann den Untergang von Kodak. Eine Weltmarke, hinweggefegt von der Digitalisierung. Den Wandel verschlafen, ein Fall für die Lehrbücher. Erst später las ich die viel interessantere Geschichte: Warum der Konkurrent Fujifilm überlebt hatte. Er hatte sich rechtzeitig angepasst, Fähigkeiten aus der Beschichtung von Filmen in die Biomedizin übertragen. Die Healthcare-Sparte macht inzwischen fast ein Drittel des Umsatzes aus.
Die typische Case Study eben, mit einer klaren Lektion: Besinn dich nicht auf die Produkte, sondern auf die Fähigkeiten. Warum gibt es ein Unternehmen? Was ist der Kern, die DNA? Fujifilm hatte seine Technologien über Jahrzehnte für das Fotogeschäft benutzt, nun schafften die Japaner Anwendungen in der Medizintechnik.
Auch wenn das im Rückblick immer klarer und einfach klingt, sind diese Transformationsgeschichten mittlerweile komplizierter geworden.
Wie ein Straßenmusikant mit vier Instrumenten
Inzwischen schreibt die Realität an jeder Case Study wie an einer Netflix-Serie: Die Anpassung geht weiter, hört nie auf, der Ausnahmezustand wird immer mehr zum Alltag. Seit Ausbruch der Pandemie treffen uns Krisen in einer neuen Wucht und Dichte. Krisen, die sich teils überlagern – und die in ihrer Dimension in Jahrzehnte (und nicht wenige Jahre) passen.
Es gibt kaum Zeit zum Atemholen, zum Innehalten. Und wenn eine Krise einigermaßen im Griff ist, wie etwa der Energieschock vor einem Jahr, bedeutet das keine Entwarnung. Zumal das Fließband der Megatrends weiterläuft: Alles soll klimaneutral werden und am besten KI-gesteuert, aber so agil und flexibel, dass man genügend Talente anzieht und nicht zwischen den USA und China zerrieben wird. Manchmal fühlt man sich wie diese Straßenmusikanten in der Fußgängerzone, die Gitarre, Trommel und Mundharmonika parallel spielen – nur dass noch jemand vorbeikommt und einem eine Geige in die Hand drückt.
Man könnte einwenden, dass es Krisen und grundstürzende Veränderungen immer gegeben hat: der Ölschock in den 1970er-Jahren, der 11. September, der Irakkrieg, die globale Finanzkrise. Und war die Globalisierung nicht ein einziges großes Abenteuer? Musste nach dem Fall der Mauer nicht ebenso improvisiert werden?
Der große Krieg als Szenario
Das stimmt, aber es gibt Unterschiede: Frühere Krisen trafen Unternehmen in einer Welt, die eher zusammenwachsen und kooperieren wollte. Diese Ordnungssysteme lösen sich auf. Der Freihandel ist auf dem Rückzug, die „Pax Americana“ auch. Große Kriege waren etwas fürs Geschichtsbuch, nicht Teil der Szenarienplanung. Die Dekarbonisierung – um einen Megatrend zu nennen – ist wie ein neues Betriebssystem: Doch Umbaupläne für Jahrzehnte werden durchkreuzt und torpediert durch plötzliche Schocks, wie der Ukraine-Krieg gezeigt hat.
Die Kunst der Anpassung ist eigentlich ein Ur-Thema der Wirtschaft: Wer sich nicht verändert, bekommt ein Problem oder ist aus dem Spiel. Kodak, Grundig, Quelle, Blackberry, Nokia – einst große Namen sind verschwunden oder ein Schatten ihrer selbst. Das ist der normale Zyklus der Wirtschaft – und er ist auch wichtig und gesund, damit neue Unternehmen entstehen, die mehr Fortschritt bringen.
Die Kunst der Anpassung muss inzwischen aber neu interpretiert werden, weil es nicht mehr nur goldene Regeln gibt. Sie ist wie ein Buch, das sich selbst fortschreibt – und wenn man zurückblättert, können Lektionen von damals schon überholt sein. Für Managerinnen und Manager bedeutet das im Alltag oft ein Handeln unter permanenter Anspannung und Wachsamkeit. Es gibt mehr zu verdauen, mehr zu verstehen, mehr zu verarbeiten. Und so muss man Resilienz trainieren wie einen Muskel, der ständig belastet wird.
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Transparenzhinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 14. Dezember 2023 bei der WirtschaftsWoche. Wir zeigen ihn aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.