WirtschaftsWoche: In den USA hofft Donald Trump in diesem Jahr auf eine Wiederwahl. In den Niederlanden hat im vergangenen Jahr der Rechtspopulist Geert Wilders die Wahl gewonnen. Warum haben Politiker Erfolg, die sich als starker Mann präsentieren?
Stefanie Stahl: Wir leben in einer komplexen, krisenbehafteten Zeit. Viele Menschen sind orientierungslos und überfordert. Sie fühlen sich an die Hand genommen, wenn ihnen jemand eine klare Meinung vorkaut. Es liegt in unseren Genen, dass wir glauben, wir hätten eine echte Führungspersönlichkeit vor uns, wenn jemand ein archaisches Anführer-Verhalten an den Tag legt. Gesten der Macht beeindrucken uns.
Inwieweit liegt das in den Genen?
Unser Leben fängt ja schon mit zwei starken Führungspersönlichkeiten an, mit Mama und Papa. Und dann kommt eine jahrhundertealte Kultur hinzu, die bei uns allen einen Hang zum hierarchischen Denken hat entstehen lassen.
In den Achtzigerjahren gab es den Westen und den Osten, die Welt war schwarz und weiß. Heute müssen Menschen vor allem Grautöne ertragen. Warum fällt uns das so schwer?
Ambivalenz ist immer schwer auszuhalten. Es ist eine psychologische Herausforderung, mit einem „sowohl als auch“ umzugehen. Heutzutage müssen wir uns eingestehen, dass wir eine Situation möglicherweise gar nicht beurteilen können. Wir müssen akzeptieren, dass es nicht der Wahrheitsfindung dient, wenn wir uns halbinformiert auf eine Seite schlagen. Kurzfristig würde das vielleicht Erlösung bringen, aber es hilft nicht wirklich weiter.
Erhöht Angst unser Bedürfnis nach Klarheit?
Ja, die Antwort auf Angst ist Kontrolle. Und um Kontrolle zu bekommen, brauche ich natürlich Klarheit. Die Alternative wäre Vertrauen, aber das fällt vielen schwer.
Spielen vermeintlich starke Politiker mit den Ängsten der Bevölkerung?
Solche Politiker vermitteln das Gefühl, alles im Griff zu haben. Und sicher sind sie damit eine Antwort auf Ängste. Gleichzeitig bringen uns diese vermeintlich starken Führungspersönlichkeiten seit Jahrhunderten ins Verderben, weil sie im Grunde nicht stark sind, sondern vor allem unreflektiert. Hitler, Stalin, Putin – das sind alles traumatisierte Persönlichkeiten mit schwierigen Kindheiten.
Wirkliche Stärke würden Sie also in reflektiertem Verhalten sehen?
Ja, es ist wichtig, seine Gefühle sortieren und reflektieren zu können. Menschen, die sich im Affekt abreagieren, sind eine Zumutung für die Gesellschaft – für den Nachbarn im Reihenhaus oder den Nachbarstaat.
Was ist für Sie noch ein Zeichen von Stärke bei Politikern?
Ein wirklich guter Politiker oder eine wirklich gute Politikerin ist unabhängig von der Meinung anderer. Sie schaffen es, im Gegenwind stehen zu bleiben, und knicken nicht sofort ein, wenn sie Widerstand spüren. Sie kämpfen für ihre tiefsten inneren Überzeugungen.
Kann es auch eine Form der Stärke sein, seine Meinung zu ändern?
Absolut! Wenn jemand neue Informationen bekommt, ist es ein Zeichen der Stärke, seine Meinung zu überdenken. Viele Menschen agieren leider in den Kategorien gewinnen und verlieren. Wer in einer Diskussion aber immer nur um sein Ego zittert und auf keinen Fall unterlegen sein will, hat von vorneherein verloren. Für mich ist es absolute Stärke, souverän zu sagen, dass der andere ein besseres Argument hat.
Wie wichtig ist es, dass Politiker Schwächen eingestehen können?
Das wäre sinnvoll. Aber dazu brauchen wir eine Bevölkerung, die differenziert ist und damit umgehen kann.
Sie haben zahlreiche Bestseller über psychologische Themen geschrieben, gehen mit Ihrem Programm auf Tournee. Hat in Deutschland das Interesse an Selbstreflexion zugenommen?
Ja, der Zeitgeist hat sich verändert und vor allem bei jüngeren Leuten gibt es ein großes Interesse, mehr über Emotionen und das eigene Verhalten zu erfahren. Ich werde allerdings richtig sauer, wenn das jemand einen Hype um Psychologie nennt.
Wieso?
Kein Mensch würde von einem Hype um Medizin oder Informatik sprechen. Psychologie ist für mich wichtigsten Schlüssel zur Lösung der Probleme der Menschheit. Psychologie ist ja das, was uns alle ausmacht, also die Art und Weise, wie wir wahrnehmen, wie wir denken, wie wir uns verhalten, was wir fühlen. Wenn jeder Mensch reflektiert wäre, dann hätten wir eine komplett andere Welt. Selbstreflexion ist eine politische Notwendigkeit.
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