Wie stark viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter Druck stehen, belegen Zahlen eindrücklich. Ein Fünftel aller Beschäftigten hierzulande können die gesetzlichen Ruhezeiten zwischen ihren Arbeitseinsätzen nicht einhalten. Fast ein Drittel schafft es nicht, die gesetzlichen Ruhepausen während der Arbeitszeit einzuhalten. Das geht aus einer Anfrage der Linksfraktion im Bundestag an das Arbeitsministerium im Frühjahr 2022 hervor. Sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestresst, können sie erkranken. Wie sie aus dieser Mühle wieder herauskommen können, erklärt Stressforscher Markus Heinrichs. Das Interview wurde im Mai 2022 geführt. Wir zeigen es aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.
WirtschaftsWoche: Herr Heinrichs, Sie leiten eine Stressambulanz in Freiburg. Wie erschöpft sind Menschen, die bei Ihnen Hilfe suchen?
Markus Heinrichs: Wir sind hier im Grenzgebiet zur Schweiz. Neben unserem direkten Einzugsbereich betreuen wir etwa auch Führungskräfte aus den Basler Pharmakonzernen. Früher kamen gerade Männer erst dann, wenn sie schon an Alkoholismus erkrankt waren oder einen Suizidversuch hinter sich hatten. Sie waren oft schwer depressiv oder hatten einen Zusammenbruch. Das hat sich zum Glück deutlich verändert! Gerade junge Führungskräfte kommen heute deutlich früher und mit weniger chronischen Symptomen als vor 20 Jahren.
Heißt das, psychische Erkrankungen sind unter Berufstätigen mittlerweile kein Tabu-Thema mehr?
Zumindest gibt es viele Personen im mittleren Alter, die in ihrem Umfeld nicht nur über einen Kreuzbandriss beim Skifahren reden können, sondern auch darüber, dass ihnen alles zu viel wurde. Geholfen haben auch Prominente, wie Politiker und Sportler, die über psychische Erkrankungen gesprochen haben. Nehmen Sie den Fußballtrainer und Manager Ralf Rangnick, der 2011 wegen eines Burnouts als Schalke-Trainer abtreten musste – und wieder genesen und sehr erfolgreich in seinen Job zurückkehrt ist.
Zur Person
Markus Heinrichs ist Professor an der Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät sowie an der Medizinischen Fakultät und Leiter der „Hochschulambulanz für stressbedingte Erkrankungen“ der Universität Freiburg. Für seine Forschung zu Stress und menschlichem Sozialverhaltens erhielt er den „Pfizer Research Prize in Neuroscience“ und die Auszeichnung „Highly Cited Researcher“ durch Thomson Reuters.
Erfolgreich nach einem Burnout zurückkehren, wie oft klappt das?
Diese ängstliche Frage stellen fast alle, ob Manager, Politiker oder Wissenschaftler. Aber ja, das klappt. Aber es kommt sehr auf den Einzelfall an. Manche sehen sich als gescheitert. Andere sagen: Ich hab wenig Zeit, ich will noch einen drauflegen. Beides kann realistisch sein. Ich hatte mal einen herausgehobenen CEO, bei dem schlagartig nichts mehr ging und der selbst entschieden hatte: Ich muss aus dieser Mühle heraus und ein neues Leben führen. Wir machen eine umfangreiche Diagnostik und folgen keinem unrealistischen Lebensstil. Zynisch gesagt: Es ist nicht unsere Aufgabe, dass wir Leute fitschrauben für die schrecklichsten Arbeitsbedingungen. Ein Therapieziel kann auch sein, herauszufinden, wie jemand wieder ein zufriedenes Leben führen kann.
Funktioniert das denn – als Patient bei Ihnen in Behandlung sein und zugleich als Manager weiter auf hohem Level arbeiten?
Ja, unser Behandlungsangebot ist ambulant. Und wenn Menschen, wie ich es eingangs sagte, noch nicht schwer oder chronisch krank sind, ist eine lebens- und arbeitsbegleitende ambulante Therapie deutlich schneller und nachhaltiger. Manche Betroffene benötigen nur vier bis acht Termine, um sich mit neu erlernten Strategien und Techniken gut zu stabilisieren.
Wer sind denn typischerweise Ihre Patienten?
Unter chronischem Stress leiden insbesondere Personen in der Sandwichgeneration zwischen 30 und Mitte 40. Sie stehen unter enormen Druck. Da kommt oft alles gleichzeitig zusammen: Karriere, Kinder, Umzüge, Hausbau. Sie vernachlässigen Erholung und Freunde und haben oft das Gefühl, nie genug leisten zu können. Bei dieser Gruppe haben wir die höchste Quote von Menschen, die mit stressbedingten Erkrankungen reagieren. Und ja, immer noch wollen viele nicht das Wort Depression hören, sondern lieber von Burnout sprechen.
Weil Burnout mehr von Leistung als von Schwäche zeugt.
Burnout ist ein Syndrom, keine Erkrankung. Wir nehmen eine Selbstdiagnose sehr ernst. Aber wir müssen schauen, was die Patienten wirklich haben und klinisch genau unterscheiden. Viele dieser Erkrankungen hängen dabei untrennbar mit schlecht bewältigtem Stress zusammen. Das können auch psychosomatische Störungen wie Magenbeschwerden oder Spannungsschmerzen im Nacken oder Rücken sein.
Acht Tipps zum Stressabbau
Versuchen Sie, die Situation, die Ihnen Frust bereitet, ganz bewusst von oben beziehungsweise von außen zu betrachten. So bauen Sie eine innere Distanz zum aktuellen Geschehen auf. Zum Beispiel: „Der Stau, in dem ich gerade stehe, ist eine Tatsache, die ich nicht ändern kann. Wenn ich mich aufrege, verschlimmere ich die Situation nur.“
Quelle: Deutsche Herzstiftung
Sport zählt laut der Deutschen Herzstiftung zu den besten Möglichkeiten, um Stress loszuwerden. Bereits eine halbe Stunde Bewegung, sei es Walking, Schwimmen oder Tennis, kann das Stresslevel deutlich senken.
Zwar lassen sich die Ursachen von Stress nicht immer beheben, etwa bei einem schwierigen Chef. Bei Stress in der Beziehung können gezielte Gespräche helfen.
Hier gilt: Nicht schon aufgebracht ins Gespräch gehen, sondern lieber ein paar Tage warten und alle Argumente und Gegenargumente auch sacken lassen.
Yoga, autogenes Training und Co. werden immer wieder angepriesen – doch nicht jedem sind sie eine Hilfe. Während manche Menschen alleine und in völliger Stille entspannen, bevorzugen andere etwa die Anleitung in einer Gruppe.
Die gewählte Technik sollte unbedingt regelmäßig geübt werden, damit sie in akuten Stress-Situationen dann auch abrufbar ist.
Unter dem „Gegenentwurf“ versteht man die ständige Pflege persönlicher Interessen, seien es Chorsingen, Fußballspielen oder Briefmarkensammeln. Also Aktivitäten, die uns anregen, ein Kontrastprogramm zum (beruflichen) Alltag bieten, uns positiv herausfordern – und so vom negativen Stress ablenken.
Fernsehen mag zwar entspannend erscheinen, doch man ist dabei passiv und erreicht keine nachhaltige Stress-Reduktion. Wertvolle Zeit, in der man den Ärger des Tages verarbeiten und abschütteln kann, geht so verloren.
Es kann helfen, sich einen Plan zu machen, an welchen Tagen man den Fernseher auf jeden Fall auslassen und stattdessen etwa ein altes Hobby wieder aufleben lassen oder ein Treffen mit Freunden verabreden kann.
Gerade wer viel zu tun und das Gefühlt hat, dass der Tag nie genug Stunden haben kann, achtet oft nicht ausreichend auf seine Ernährungsweise. Es wird dann oft das Falsche, zu hastig und insgesamt zu viel gegessen und häufig auch zu viel Alkohol getrunken.
Zusammen mit Bewegungsmangel kann das zu Übergewicht führen, was Unzufriedenheit und Frustgefühle noch verstärken kann. Man sollte sich am Besten ein Repertoire an schnellen und gesunden Mahlzeiten zulegen, etwa aus der Mittelmeerküche, die sich auch gut vorbereiten lassen.
Arzneien, die Beruhigung versprechen gibt es zwar – sie sollten aber stets nur unter Kontrolle eines Arztes zum Einsatz kommen, und nicht einfach auf eigene Faust im Internet bestellt werden.
Als Beispiel nennt die Deutsche Herzstiftung Benzodiazepine, die für langfristige Stressbewältigung ungeeignet sind, weil sie schon nach kurzer Zeit abhängig machen und zudem erhebliche Nebenwirkungen (Konzentrationsschwierigkeiten, Benommenheit) haben können.
Das alles sind Dinge, die viele Ursachen haben können. An welchen Symptomen kann jemand gut erkennen, dass er oder sie gerade stark gestresst ist?
Das erkennen Sie beispielsweise daran, dass die Erholung nicht mehr so funktioniert wie früher. Sie kommen aus dem Urlaub zurück und schon gehen die Unruhe, das Gedankenkreisen, die Schlafprobleme wieder los. Die Betroffenen bekommen ihre Stresssymptome also nicht mehr einfach „wegreguliert“. Und wenn Sie dann noch Ihr Sozialleben bei einem zugleich steigenden Arbeitspensum herunterfahren, kann das schon ein Alarmzeichen sein.
Was unterscheidet denn chronisch Gestresste von denen, die kurzfristig Stress haben?
Stressreaktionen kann man gut mit standardisierten Stresstests messen, bei denen wir unter anderem Herzrate, Blutdruck, das Stresshormon Kortisol oder auch psychologische Parameter wie Ängstlichkeit messen. Bei einer gesunden Person sollte dieser Pegel nach einer Stresssituation wieder schnell sinken. Chronisch gestresste Personen sind viel zu lange hochreguliert. Die kriegen diese Gedanken auch nicht los, wenn etwas nicht geklappt hat. Es gibt auch einen Extremfall: Manche Dauergestresste reagieren gar nicht mehr auf eine solche Situation. Die sind einfach zu erschöpft für eine biologische Stressreaktion.
Warum können manche denn mit Stress besser umgehen als andere?
Es gibt bekannte genetische Veranlagungen, außerdem hat nicht jeder die gleichen Herkunfts- und Ausgangsbedingungen für den Umgang mit Stress. Manche erleben eine Belastung als Stimulation, andere werden krank. Es gibt Jobs, die machen 95 Prozent der Berufstätigen krank und fünf Prozent werden glücklich damit. Hier lohnt es sich auch für Unternehmen, jenseits des Betriebssports und der gesunden Ernährung auch beim Thema Stressmanagement gezielte Angebote zu machen. Und ganz wichtig: Nicht jeder gestresste Mensch braucht direkt professionelle Hilfe, es gibt viel, was man für sich selbst tun kann.
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Was sind denn gute Tipps, um Stress abzubauen?
Fokussieren Sie sich nicht nur auf den Urlaub unter Palmen in drei Monaten. Bauen Sie Erholungsinseln in jeden Alltag ein, planen Sie etwas Schönes für den Abend statt passiv in den Fernseher zu starren. Regelmäßige Bewegung reduziert signifikant die Stresshormonfreisetzung bei psychischem Stress, mindestens dreimal pro Woche Laufen, Schwimmen oder Fahrradfahren reicht da schon aus. Das hilft auch, dass Ihr Erregungssystem nicht permanent am Limit fährt. Daher gibt es in unseren Therapien durchaus auch die Hausaufgabe „Laufschuhe oder Badesachen kaufen“, um Menschen zu begleiten, die erschöpft und inaktiv geworden sind. Doch wir wissen mittlerweile auch: Wenn man die großen internationalen Studien ansieht, sind es nicht Rauchen, Alkohol, Übergewicht, Bewegungsmangel oder zu wenig Schlaf, was Menschen früher sterben lässt. Es gibt zwei Faktoren, die haben alle Risikofaktoren überholt!
Die wären?
Sozial integriert sein und Unterstützung erfahren. Wir puffern Stress und Belastung sehr effizient durch soziale Kontakte ab. Unter Medizinern ist das aktuell eine revolutionäre Erkenntnis. Deshalb: Achten Sie auf Ihr soziales Netzwerk. Theresa May hatte als Premierministerin genau deshalb in Großbritannien vor einigen Jahren ein Ministerium für Einsamkeit geschaffen. Einsamkeit kann krank machen und kostet die Gesellschaft Milliarden. Übrigens gibt es dazu eine interessante Studie zu geschlechtsspezifischen Unterschieden.
Erzählen Sie mal.
Kurz gesagt: Männer sind weniger geschickt darin, Frauen im Hinblick auf eine Stresssituation wirksam zu unterstützen – im Gegenteil: Die Anwesenheit des eigenen Partners macht es eher schlimmer. Eine Frau kommt sogar besser allein durch als mit männlicher Unterstützung. Umgekehrt ist es anders: Frauen bieten intuitiv Formen der sozialen Unterstützung, die anderen den Stress nimmt. Sie unterstützen viel häufiger emotional statt mit Ratschlägen. Dass die Forschung zeigt, dass Frauen im Durchschnitt besser und intuitiver unterstützen als Männer, sollte auch den letzten männlichen Zweiflern zu denken geben: Frauen sind tolle Führungskräfte.
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