Vor zwei Jahren habe ich Halloween zum Anlass genommen, die kommenden Risiken für die Börsen zu thematisieren. Damals kam ich zum Schluss: „Platz 1 ist unstreitig die Verharmlosung der Inflation“. Durch die Pandemie, den Krieg in der Ukraine und den ausgelösten Energiepreisschock wurde dieses Gespenst ein realer Börsenschreck, nicht nur an Halloween. Ich kann so viel verraten, dass es in meiner Aufzählung der Top 5 diesen Jahres auch wieder dabei ist, aber nicht mehr an der Spitze, sondern nur noch auf einem hinteren, vierten Platz.
Das Jahr 2023 ist fast vorbei. Das chinesische „Re-Opening“ sowie der schnelle Rückgang der Energiepreise infolge des relativ warmen Winters haben uns einen fulminant positiven Jahresstart in fast allen Assetklassen beschert. Aber durchwachsene globale Wirtschaftsaussichten, ein erneuter Anstieg der Ölpreise, im Westen nur langsam fallende (Kern-)Inflationsraten und dramatischer werdende politische Risiken haben die weitere Entwicklung gedämpft. Konjunktur und Märkte sind vor diesem Hintergrund nicht als stabil zu bewerten. Damit kommt der Identifikation von Risiken für Instabilität eine ganz besondere Bedeutung zu.
Lassen Sie mich im Folgenden den Countdown der fünf größten Risiken für die Märkte in den nächsten 14 Monaten durchführen. Auf Platz 5 liegt eine sich manifestierende Fragmentierung der weltwirtschaftlichen Beziehungen, auf Platz 4 das Risiko, dass die Inflationsdynamik nachhaltig hoch bleibt, „sticky“ wie die Angelsachsen so schön sagen. Platz 3 ist eine globale Rezession. Auf einen guten 2. Platz kommt eine Abwärtsspirale bei Assetpreisen als Folge des schnellen und signifikanten Zinsanstieges, aber den ungefährdeten 1. Platz übernimmt das Gespenst einer eskalierenden Polykrise. Alle fünf sind globale Themen, mächtige, weltumspannende Gespenster sozusagen. „Süßes“ oder „Saures“ heißt es zu Halloween. Bedauerlicherweise dürften sich die meisten meiner Top 5 Gespenster nicht durch „Süßes“ besänftigen lassen.
Platz 5, das Gespenst der Fragmentierung, ist nicht neu. Es hat sich seit dem Beginn der Sanktionswellen von Donald Trump gegen China immer wieder – nicht nur zu Halloween – gezeigt, aber es wurde jedes Jahr neu gefüttert, auch nach der Abwahl Donald Trumps. Die immer weiter sich ausweitenden Sanktionen, gerade im Technologiebereich, zwischen den USA und China, und der Druck der Amerikaner auf ihre Verbündeten, hier zu folgen, die Gründung von BRICS+ sind aus meiner Sicht Indizien, dass dieses Gespenst im nächsten Jahr zu den bemerkenswerten am Markt gehören wird, spricht es doch isoliert für höhere Inflation und geringeres Wachstum. „Saures“ scheint hier garantiert, „Süßes“ würde aktive politische Bemühungen erfordern, die aber gerade im nächsten Jahr, einem großen Wahlkampfjahr in den USA, eher unwahrscheinlich anmuten.
Und damit füttert Gespenst Nummer 5 auch gleich das Gespenst Nummer 4, das einer hartnäckigen und nur schrittweise rückläufigen Inflation, am meisten diskutiert unter dem englischen Namen der „Sticky Prices“. Anhaltende Inflation reduziert die Effizienz der Allokationsentscheidungen in der Wirtschaft und an der Börse, führt zu höheren nachgefragten Risikoprämien und schränkt die mögliche Unterstützung fiskalischer und geldpolitischer Institutionen ein. Dennoch, dieses Gespenst ist mittlerweile wohl bekannt und dürfte damit auch den Höhepunkt seines Schreckens überschritten haben. Also noch ein Thema für das diesjährige Halloween, nicht notwendigerweise für die zukünftigen, denn die Zeit und das Momentum sprechen eher dafür, dass die gegenwärtigen Politikmaßnahmen ausreichend „Süßes“ bereitgestellt haben, um diesem Gespenst beizukommen – solange es nicht von unserem Gespenst Nummer 1 wieder gefüttert wird.
Platz 3 gebe ich dem Gespenst der Rezession. Der Zinsanstieg, den wir hinter uns haben, die Inflation, die Fragmentierung, all dies übt Druck auf die Wirtschaft aus. Sicher hatte der Abbau der über die Corona-Zeit akkumulierten Ersparnisse einen gegenläufigen Effekt auf die konjunkturellen Belastungen und per Saldo auch in den USA bessere Wachstumszahlen ermöglicht. Aber diese Effekte laufen aus. Ein Rezessionsgespenst in Zeiten zu hoher Inflation und Belastungen für die steigenden Fiskalkassen sind sicher etwas, was Aktienmärkte im Besonderen gefährden würde, weil die Gewinndynamik der Unternehmen auf dem Prüfstand stände. Was für Süßes könnte man angesichts beschränkter Spielräume verabreichen? Ich denke, es gäbe schon Möglichkeiten, wie wir in den 80er Jahren gesehen haben: Aktive Deregulierung zur Stimulierung der „Animal Spirits“, ein aktiver Rückzugs des Staates etc. In einer Welt fester politischer Weichenstellung zu einem stärker werdenden Staatseinflusses erwarte ich mir hier aber eher wenig „Süßes“.
Schneller schlau: Rezession
Der Begriff Rezession bedeutet Rückgang und stammt aus dem Lateinischen. Es handelt sich um eine Rezession, wenn die Wirtschaft nicht wächst, sondern schrumpft – sich also in einem Abschwung beziehungsweise Rückgang befindet. Für die Bemessung der Konjunktur dient das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Offiziell tritt eine sogenannte technische Rezession ein, wenn das BIP in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen im Vergleich zu den jeweiligen Vorjahresquartalen nicht wächst, sondern zurückgeht.
Die Rezession ist eine der vier Phasen, die der Konjunkturzyklus einer Volkswirtschaft durchlaufen kann. Sie folgt auf die Phase der Hochkonjunktur und kann im schlimmsten Fall in eine Depression übergehen. Auf eine Depression folgt dann früher oder später ein Aufschwung.
Eine Rezession zeichnet sich durch unterschiedliche Merkmale aus. Dazu gehören unter anderem:
- Rückgang der Nachfrage
- überfüllte Lager
- Abbau von Überstunden und beginnende Kurzarbeit
- Entlassung von Arbeitskräften
- ausbleibende Investitionen
- teilweise Stilllegung von Produktionsanlagen
- stagnierende oder sinkende Preise, Löhne und Zinsen
- fallende Börsenkurse
Zu den Ursachen einer Rezession gehören unterschiedliche Punkte, die sich nur schwerlich verallgemeinern lassen. Aktuell wirkt sich etwa der Krieg in der Ukraine erheblich auf die Konjunktur in Europa und den USA aus.
In einer Rezession halten Unternehmen und private Haushalte ihr Geld in der Regel beisammen. Zu den Folgen einer Rezession zählen steigende Arbeitslosenzahlen, außerdem arbeiten mehr Menschen in Kurzarbeit. Beides führt zu geringerer Nachfrage. Denn wenn die Bürger weniger Geld verdienen, konsumieren sie auch weniger. Dies ist wiederum schlecht für Unternehmen, die dadurch weniger verkaufen und auf ihren Lagerbeständen sitzen bleiben. Die fehlenden Einnahmen können zu weiteren Entlassungen führen, sodass die Arbeitslosigkeit weiter steigt.
Auch Menschen, die auf der Suche nach einem neuen Job sind, stehen in einer Rezession vor Problemen. Denn wer sich um eine neue Stelle bewirbt, dürfte während einer Rezession Schwierigkeiten haben eine entsprechende Stelle zu finden – denn geht es Unternehmen wirtschaftlich schlechter, stoppen sie Neueinstellungen.
Durch eine steigende Inflation sinkt die Kaufkraft der Menschen. Durch eine sinkende Kaufkraft sinkt wiederum die Konsumbereitschaft der Menschen, da sie ihr Geld beisammen halten, statt es für Waren und Güter auszugeben.
Platz 2 ist das Gespenst einer Abwärtsspirale bei den Assetpreisen, ausgelöst durch die Verwerfungen und stillen Verluste am Rentenmarkt, die sich in weitere Bereiche der (Finanz-) Wirtschaft hineinfressen. Das Beben bei den Pensionsfonds in Großbritannien, das im vergangenen Jahr zum Rücktritt von Liz Truss führte, war ein Warnzeichen, die Regionalbankenpleiten in den USA im Frühjahr das nächste und der labile Zustand der Immobilienmärkte das dritte. Das „Süße“, diese Gespenster zu besänftigen, wäre eine sich einsetzende Beruhigung an den Zinsmärkten, etwas das kommen sollte, aber die Frage der Geschwindigkeit entscheidet, also wie lange Märkte noch dem „Sauren“ ausgesetzt sein werden.
Platz 1 bleibt die wachsende, sozusagen sich fortlaufend metastasierende Polykrise, ausgehend von der Geopolitik, aber durchaus alle Gespenster speisend, die ich zuvor aufgeführt habe. Der Begriff Polykrise wurde vom britischen Historiker Adam Tooze (und dem Franzosen Edgar Morin) eingeführt und beschreibt, umgangssprachlich zusammengefasst, verschiedene Krisen, die sich gegenseitig verstärken. Die russische Invasion der Ukraine im vergangenen Jahr setzte den Startpunkt. Die Verbissenheit und die einen immer höheren Blutzoll fordernde Härte dieses Krieges gepaart mit der fehlenden Aussicht auf ein baldiges Ende sind nicht nur als Damoklesschwert über den Kapitalmärkten anzusehen, sondern es wurde auch zusätzlicher Raum für neue Konflikte geschaffen.
Die Weltordnung zeigte sich in der Folge fragil, denn der Weltgemeinschaft fehlte die Handlungsfähigkeit, Konflikte dieser Art zu beenden. Hierzu genannt seien der kurze Krieg um Berg-Karabach, die Militärputsche in verschiedenen Staaten der Sahelzone, ganz neu die furchtbaren Terror- und Kriegsereignisse in Israel und Gaza, die einen Flächenbrand im Nahen Osten auslösen könnten. Hinzu kommen zunehmende Spannungen im südchinesischen Meer. Und leider ist das Gemeinsame in all diesen aufflammenden Zusatzkrisen, dass ein diplomatischer Ansatz, diese Krisen zu lösen oder wenigstens einzudämmen, bislang für mich nicht zu erkennen ist. Vielmehr wird die Positionierung zu jeder Krise in Sanktionen abgebildet, die aber die Krisen – wenigstens zunächst – nicht lösen, sondern eher verschärfen.
Die geopolitischen Risikoprämie für einzelne Assetmärkte wird demzufolge höher. Wie immer muss man – leider – drauf hinweisen, dass der Schrecken dieser wachsenden Polykrise für die Märkte davon abhängt, wie stark Kapitalmärkte und Wirtschaftsaggregate beeinflusst werden, nicht von den bereits unermesslichen menschlichen Tragödien. Aber je länger Krisen dauern, je mehr sie metastasieren, umso höher wird auch das Risiko, dass die Polykrise die Gespenster 3 bis 5 weiter füttert, die Spaltung der Welt in verschiedene Wirtschaftsfragmente, die konsequente Verstärkung inflationärer Impulse aufgrund der Beeinträchtigung von Rohstoffproduktion oder Lieferwegen, der daraus resultierende Druck auf ein vermindertes Zukunftsvertrauen und niedrigeres Wachstum und für die Rahmenbedingungen zu hohe Realzinsen.
Den Gespenstern dieses Halloween ist eigentlich nur mit dem „Süßen“ einer Politik beizukommen, die zu einem Ende der politischen Krisen und einem weltweit wieder gleichen Verständnis internationalen Rechtes führt. Blickt man auf die Uneinigkeit über die Ursachen, den sich ausweitendem Riss zwischen dem Norden und dem „globalen Süden“, den mangelnden Konsens oder auch nur fehlende Plattformen zur Beendigung der Polykrise spricht vieles dafür, dass das diesjährige Halloween für die Börsen deutlich mehr „Saures“ als „Süßes“ in Aussicht stellt.
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