Akademische Debatte Wissenschaftler kämpfen gegen die Cancel-Culture an den Universitäten
In den USA wächst der Widerstand gegen die Einengung des akademischen Diskurses an den Universitäten. Auch in Deutschland formt sich Widerstand gegen die wachsenden politischen Korrektheitsvorgaben an den Universitäten.
04.11.2022| Update: 04.11.2022 - 18:10 Uhr | Analyse von Malte Fischer
Quelle: imago images
Lange haben die Apostel der politischen Korrektheit und Cancel-Culture-Großmeister das Zepter an den Universitäten in den USA geschwungen und tun es noch immer. Doch jetzt bekommen sie Gegenwind. Der an der Stanford-Universität lehrende Ökonom John Cochrane hat zusammen mit Kollegen einen Aufruf zur Wiederherstellung der akademischen Freiheit gestartet, der bereits von mehr als 700 Forschern unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen unterzeichnet wurde. Unter ihnen sind der Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman, die weltbekannte Ökonomin Deirdre McCloskey sowie der berühmte Psychologe Steven Pinker.
In ihrem offenen Brief, der an die Universitäten Amerikas sowie die größte Ökonomen-Vereinigung der Welt, die American Economic Association, adressiert ist, prangern die Unterzeichner die wachsende Intoleranz an den Universitäten gegenüber vom Mainstream dissentierenden Positionen an. Forscher, deren Studienergebnisse den herrschenden Narrativen widersprechen, hätten es zunehmend schwer, ihre Untersuchungen zu publizieren, finanzielle Mittel einzuwerben und eine feste Anstellung an den Unis zu finden.
Persönliche Diffamierungen gekoppelt mit Löschaktionen in sozialen Medien hätten an den Universitäten ein Klima der Angst und der Selbstzensur erzeugt, kritisieren die Unterzeichner. Tatsachen und Zusammenhänge, die dem herrschenden Narrativ von Diversität, Gleichheit und Inklusion widersprächen, könnten nicht einmal mehr benannt werden, ohne Vergeltungs- und Strafaktionen seitens der selbsternannten Wächter über die politische Korrektheit fürchten zu müssen. „Der Aktivismus hat die Forschung und Debatte verdrängt“, kritisieren die Autoren. Immer mehr talentierte Forscher verließen daher frustriert die Universitäten.
Der Erkenntnisfortschritt bleibt auf der Strecke
Wissenschaft, so die Autoren, ist das offene und faktengestützte Ringen um Erkenntnis und Wahrheit. Jeder Versuch, missliebige Ansichten zu unterdrücken, ihre Repräsentanten zu stigmatisieren, zu isolieren oder gar sozial und beruflich zu vernichten, habe mit Wissenschaft nichts, mit totalitärem Herrschaftsanspruch über den intellektuellen Diskurs dafür umso mehr zu tun. Die Vergangenheit zeige, wie die Monopolisierung der angeblich richtigen Lehre durch die vorherrschende Meinung die Wissenschaft abgetötet und den Erkenntnisfortschritt behindert habe.
In seinem Blog schreibt Cochrane, er habe in Reaktion auf den Aufruf viele Antworten von politisch links orientierten Kollegen bekommen, die den Brief gern unterzeichnen würden, dies aber nicht wagten, weil sie fürchten, andernfalls ebenfalls ins Visier der linken Tugendwächter zu geraten. Dies zeige, wie weit Cancel-Culture und Einschüchterung an den Universitäten mittlerweile gediehen seien, schreibt Cochrane.
Der Stanford-Professor und seine Mitstreiter fordern die Universitäten daher auf, wieder zu dem zu werden, was sie ursprünglich sein sollten: Horte der wissenschaftlichen Offenheit und diskriminierungsfreien Debatte unterschiedlicher Positionen.
Netzwerk für die Wissenschaftsfreiheit
Auch im deutschsprachigen Raum hat sich Widerstand gegen das Bestreben geformt, die Universitäten zum Schlachtfeld eines Kulturkampfes zu machen, der keine vom Mainstream abweichenden Ansichten und Debattenbeiträge duldet. Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, dem mehr als 700 Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen angehören, kämpft gegen die grassierende Einschränkung von Forschungs-, Denk- und Redefreiheit an den Universitäten.
Hochschulangehörige werden „erheblichem Druck ausgesetzt, sich bei der Wahrnehmung ihrer Forschungs- und Lehrfreiheit moralischen, politischen und ideologischen Beschränkungen und Vorgaben zu unterwerfen“, schreiben die Wissenschaftler des Netzwerks in ihrem Manifest. „Sowohl Hochschulangehörige als auch externe Aktivisten skandalisieren die Einladung missliebiger Gastredner, um Druck auf die einladenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Leitungsebenen auszuüben“ heißt es in dem Schreiben. Zudem werde versucht, Forschungsprojekte, die mit den weltanschaulichen Vorstellungen nicht konform gehen, zu verhindern und die Publikation entsprechend missliebiger Ergebnisse zu unterbinden.
Ziel des Netzwerkes ist es daher, die intellektuelle Freiheit und den Pluralismus in Forschung und Lehre gegen die von Aktivisten betriebene Einengung des Rede- und Meinungskorridors zu verteidigen. Zu diesem Zweck unterstützt das Netzwerk Kollegen, die sich Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit ausgesetzt sehen und organsiert Debatten, in denen herrscht, was an vielen Universitäten fehlt: Ein offenes Meinungsklima und ein „herrschaftsfreier Diskurs“ (Habermas).