Debatte um EU-Ukrainehilfen Berlin drängt. Rom zögert. Paris kontert. Und Kiew wartet immer noch.

Quelle: REUTERS

Olaf Scholz gibt neuerdings den Drängler: Alle EU-Partner müssten so viel für die Ukraine leisten wie Deutschland. In Frankreich und Italien kommt das nicht so gut an. Aber hat der Kanzler Recht? 

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Wer unter den hochdekorierten Gästen der Münchner Sicherheitskonferenz noch nicht gewusst haben sollte, dass Olaf Scholz ein Mann mit viel Selbstbewusstsein ist, der weiß es spätestens seit diesem Wochenende. Der Auftritt des Bundeskanzlers war eine Mischung aus sehr viel Mahnung und noch sehr viel mehr Eigenlob. 

Zwei Jahre nach Kriegsbeginn in der Ukraine sieht der bisher viel gescholtene Scholz offenbar den Moment gekommen, den Getriebenen und Kritisierten hinter sich zu lassen – und seinerseits zum Treiber und Kritiker zu werden. „Tun wir genug, um Putin zu signalisieren: We are in for the long haul? Tun wir genug, wo wir alle doch genau wissen, was ein russischer Sieg in der Ukraine bedeuten würde?“, fragte der Kanzler in seiner Rede, um die die Antwort gleich selbst zu liefern: Nein. „Wir Europäer müssen uns sehr viel stärker um unsere eigene Sicherheit kümmern, jetzt und in Zukunft.“ 

Wir? Die Botschaft des deutschen Regierungschefs fiel noch etwas länger aus, noch dazu weniger subtil: Ein Land tut bereits genug – meines. Die Unterstützung der Bundesrepublik sei „breit und umfangreich, vor allem aber ist sie langfristig angelegt“, führte er aus. Schon jetzt belaufe sich die geleistete und geplante militärische Unterstützung auf gut 28 Milliarden Euro. „Ich wünsche mir sehr – und ich werbe gemeinsam mit einigen anderen europäischen Kolleginnen und Kollegen auch hier ganz eindringlich dafür –, dass ähnliche Entscheidungen in allen europäischen Hauptstädten getroffen werden“, legte Scholz nach. 

Deutschland bei Waffenhilfen hinter den USA

In allen Hauptstädten? Im Kanzleramt verweisen sie in letzter Zeit nur zu gerne auf die Zahlen, die das Kieler Institut für Weltwirtschaft regelmäßig vorlegt. Der jüngste Ukraine Support Tracker belegt, dass Berlin tatsächlich liefert: Deutschland steht bei Waffenhilfen an zweiter Stelle nach den USA, die allerdings auszufallen drohen. Frankreich und Italien hingehen spielen kaum eine Rolle, obwohl beide die nächstgrößten Volkswirtschaften des Kontinents sind und jeweils über große Streitkräfte verfügen.

Das mag auch erklären, warum Scholz so allergisch auf die immerwährende Frage zu Taurus-Marschflugkörpern reagiert: die dahinter liegenden militärischen Probleme sind hochkomplex und heikel – und sie stünden wohl gar nicht so im Rampenlicht, wenn andere EU-Partner endlich ihrerseits genügend Material an die Front brächten.



Längst spricht man deshalb in Regierungskreisen vom Lackmustest, wenn es um die Hilfsbereitschaft der europäischen Partner geht. Denn in einem Punkt hätten die Kritiker recht, die vor allem aus den USA kommen. „Wenn wir als Europa es nicht einmal unter dem jetzt so hohen Druck schaffen, gemeinsam eine Verteidigung und sinnvolle Ausrüstung für die Ukraine auf die Beine zu stellen, dann können wir den Rest auch gleich sein lassen“, so ein hoher Regierungsbeamter. Es gehe weniger darum, welche Waffensysteme genau geliefert würden, als um dem steten Fluss an Material.

Dass Scholz diesbezüglich mittlerweile auf offener Bühne klare Erwartungen formuliert und nicht nur im diplomatischen Hinterzimmer vorträgt, zeigt zweierlei: wie dramatisch die Kriegslage mittlerweile eingeschätzt wird – und wie schlecht die Stimmung unter Europas wichtigsten Partnern ist. 

Paris: 30 Haubitzen, 60 Panzer

Jemand wie Sébastien Lecornu jedenfalls flüchtet sich mittlerweile in Sarkasmus: „Alles, was Frankreich versprochen hat, wurde auch geliefert. Gewisse Länder haben viel angekündigt, und dann folgte nichts – oder defektes Material“, keilte Frankreichs Verteidigungsminister jüngst wenig verklausuliert gegen – genau – Deutschland.

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Nach Überzeugung Lecornus sind die Daten aus Kiel „weder verlässlich noch brauchbar“, sondern sogar „komplett falsch“. Die wiederholte Kritik hatte Paris bereits im November bewogen, die bis dahin gepflegte Verschwiegenheit beim Thema Waffenlieferungen aufzugeben. Doch Boden machte man damit nicht gut, im Gegenteil. Seither wird das Thema auch zu Hause in zahlreichen Faktenchecks, Talkrunden und Experteninterviews aufgespießt.

Als die von der Regierung beauftragten Berichterstatter einen entsprechenden Bericht im Verteidigungsausschuss des Parlaments vorlegten, bezifferten sie die Ukraine-Unterstützung seit Beginn des russischen Überfalls mit 3,2 Milliarden Euro. Die Autoren setzen 1,7 Milliarden Euro an für 30 Ceasar-Haubitzen, etwa 60 Transportpanzer, mehrere Dutzend der zur Ausmusterung anstehenden Spähpanzer vom Typ AMX 10 RC, Feldgeschütze des Kalibers 155 mm aus den Achtzigern sowie Mistral-Boden-Luft-Raketen und Crotale-Flugabwehrsysteme. Eine weitere Milliarde wurde demnach im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität (EFF) aufgewendet, 300 Millionen Euro für die Ausbildung von 7000 ukrainischen Soldaten und 200 Millionen Euro für den nationalen Ukraine-Unterstützungsfonds. 

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von Artur Lebedew, Volker ter Haseborg, Angelika Melcher, Max Biederbeck, Max Haerder, Sonja Álvarez, Andrzej Rybak, Ernst Trummer, Jörn Petring, Silke Wettach, Hendrik Varnholt, Bert Losse, Thomas Stölzel

Alles in allem ist das allerdings nicht üppig. Und nach Meinung von Kritikern ist diese Summe außerdem künstlich hochgerechnet. Zugrunde gelegt wurde für die Berechnung nämlich nicht der Buchwert von Fahrzeugen und Waffen, sondern der finanzielle Aufwand der französischen Armee für die Neubeschaffung sehr viel modernerer Ausrüstung. 

„Würden die Polen dasselbe Prinzip anwenden und den Wert eines Sowjet-Panzers aus den Siebzigern mit 8,5 Millionen Euro angeben, die ein neuer koreanischer K2 kostet, der ihn ersetzt, dann würde der polnische Beitrag explodieren“, unterstreicht Léo Péria-Peigné. Der Waffenexperte bei IFRI, Frankreichs größtem unabhängigen Diskussions- und Forschungszentrum für Außenpolitik und internationale Fragen, hat das französische Engagement von Beginn an kritisch begleitet. Die Berechnungsgrundlage hält er entsprechend nicht für tragfähig. 

Immerhin: François Heisbourg, einer der bekanntesten europäischen Sicherheitsexperten und über viele Jahre in Diensten der französischen Regierung, gesteht den Franzosen – wie auch Briten – einen Vorsprung bei der Qualität der gelieferten Waffen zu. Marschflugkörper vom Typ Scalp beziehungsweise Storm Shadow, die auch hinter die russischen Frontlinien reichen können, entsprächen den expliziten Wünschen Kiews. „Das Versagen, deutsche Taurus oder amerikanische Pendants zu liefern, tut das nicht.“ 

Insgesamt, da teilt er die Einschätzung aller Experten, sei die Unterstützung jedoch zu gering. Dem Appell Emmanuel Macrons, die Produktion auf Kriegswirtschaft umzustellen, seien weder in Frankreich noch in anderen europäischen Ländern Taten gefolgt, so auch der französische Russland-Experte Nicolas Tenzer. 

Das Bild mangelnder Hilfe zu revidieren, scheint nun in Paris ganz oben auf der Agenda zu stehen. Insofern hat die Mahnung aus Berlin offenbar Wirkung gezeigt. Die Ankündigungen weiterer Waffenlieferungen folgen seit Mitte Januar Schlag auf Schlag. Der französische Präsident versprach etwa 40 zusätzliche Scalp-Raketen. Zudem sollen monatlich 50 smarte Lenkbomben in die Ukraine geliefert werden, die von Jagdflugzeugen abgeworfen können und sich ihr Ziel eigenständig suchen. 

Am vergangenen Freitagabend, als Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj und Macron in Paris ein Sicherheitsabkommen unterzeichneten, in dem Frankreich wie zuvor bereits Großbritannien und Deutschland Unterstützung für die nächsten zehn Jahre zusichert, kündigte Macron weitere Waffenlieferungen im Wert von „bis zu 3 Milliarden Euro“ für dieses Jahr an. „Wir sind entschlossen, Russlands Krieg zum Scheitern zu bringen.“ 



Rom: Platz 24 von 30

An entschlossener Rhetorik lässt auch Giorgia Meloni es nicht mangeln. Italiens rechte Premierministerin überbietet sich seit ihrem Amtsantritt Ende Oktober 2022 mit Solidaritätsbekundungen für die Ukraine und setzt sich für einen EU-Beitritt des Landes ein. Doch nach Angaben aus Kiel hat Italien per Ende Oktober 2023 gerade einmal 690 Millionen Euro an Militärhilfen geleistet. 

Große Worte und fast nichts dahinter? Die Kritik, insbesondere aus Deutschland, kommt in der italienischen Öffentlichkeit gar nicht zur Sprache. Und offiziell ist nicht einmal bekannt, welche Waffen Italien liefert. Das wird als geheim deklariert. Man weiß nur, dass Rom Helme, Schutzwesten, Panzerfäuste, leichte Maschinengewehre sowie diverse Luftabwehrsysteme wie Stinger, Samp-T und Spada Spide liefert. Zu einem großen Teil handelt es sich jedoch um Waffensysteme, die die italienische Armee selbst ausgemustert hat. 

Wie Deutschland und die anderen Nato-Partner hat sich Italien 2014 dazu verpflichtet, die Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Die Regierung Meloni hat diese Verpflichtung erneuert. Doch Verteidigungsminister Guido Crosetto fordert bisher vergeblich eine Aufstockung. 2023 hat Rom nur 1,46 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aufgewendet – macht Platz 24 unter den 30 Nato-Ländern. 

Keine italienische Regierung hat es in den vergangenen Jahren gewagt, die Rüstungsausgaben signifikant zu steigern. Das hatte finanzielle Gründe, etwa wegen der hohen Verschuldung, aber auch politische. Ausgaben für die Rüstung sind im Land politisch höchst umstritten, ob nun in der russlandfreundlichen Regierungspartei Lega von Matteo Salvini oder in den Oppositionsparteien Partito Democratico (Sozialdemokraten) und Fünf-Sterne-Bewegung.

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