Israel-Krieg „Eine rein militärische Lösung kann nicht funktionieren“

Das israelische Militär verstärkt seine Bodenoffensive gegen die radikal-islamische Palästinenser-Gruppe Hamas. Doch was folgt den Kämpfen? Quelle: imago images

Wie geht es nach der Gaza-Bodenoffensive weiter? Gil Murciano vom israelischen Thinktank Mitvim kritisiert, dass ein Konzept für Gazas Zukunft fehle. Der Konflikt habe Auswirkungen auf die Stabilität der ganzen Region.

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WirtschaftsWoche: Die israelische Regierung hat ihre Bodenoffensive in Gaza gestartet, um auf den brutalen Angriff der Terrororganisation Hamas zu reagieren. Wie geht es jetzt weiter?
Gil Murciano: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat versprochen, die Hamas zu zerstören. Die israelische Öffentlichkeit erwartet von ihm jetzt einen durchschlagenden Sieg. Etwas Symbolisches wie 1982, als Yassir Arafat nach der israelischen Invasion im Libanon Beirut verlassen musste. Wenn die Hamas lediglich geschwächt würde, wäre das für die Bevölkerung nicht hinnehmbar. Aber eine rein militärische Lösung kann nicht funktionieren. Die Regierung braucht eine politische Lösung für die Zeit danach. Ich gehe davon aus, dass US-Präsident Joe Biden bei seinem Besuch in Israel genau das klargemacht hat. Wir brauchen einen politischen Plan für den Tag danach.

Hat die israelische Regierung so einen Plan?
Diese Regierung ist eines der größten Hindernisse, wenn es darum geht, in Israel eine Diskussion über eine politische Lösung zu führen. Diese Regierung steckt in einer Sackgasse, weil ihr radikal rechte Kräfte angehören, sie hat keinen Spielraum. Sie steht so weit rechts, wie wohl noch nie eine Koalition in diesem Land. Es ist die falsche Koalition zur falschen Zeit.

Wer könnte denn in Gaza die politische Führung übernehmen nach dem Ende des Kriegs?
Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Wir haben in unserem Thinktank einen Tag nach dem Angriff eine Arbeitsgruppe mit einigen der hellsten Köpfe Israels geschaffen. Dort besprechen wir genau diese Frage. Wir müssen dabei differenzieren zwischen einer Übergangsphase und dem Endzustand.

Gil Murciano vom israelischen Thinktank Mitvim. Quelle: PR

Zur Person

Inwiefern?
Aktuell wissen wir noch nicht einmal, was es heißt, die Hamas zu stürzen. Bedeutet das, die Macht zu verringern und die Hamas immer noch als politische Einheit zu sehen, oder bedeutet es, die Hamas völlig auszulöschen wie ISIS oder Al Qaida? Es stellt sich die Frage, was der Endpunkt des militärischen Eingriffs wäre. Und wer dann die Führung übernimmt, ist offen. Ich sehe nicht, dass internationale Akteure die Führung übernehmen. Das war ja weder in Afghanistan noch im Irak der Fall. Der israelische Verteidigungsminister hat davon gesprochen, die Hamas auszuschalten und die zivile Kontrolle an lokale Führungspersönlichkeiten zu übergeben. Aber ich kann mir darunter wenig vorstellen, um ehrlich zu sein. Es gibt auch Diskussionen, Wahlen abzuhalten, dabei stellt sich die Frage, ob Hamas kandidieren darf. Das sind alles hochkomplexe Fragen, auf die es im Moment keine Antworten gibt.

Welche Rolle kann die Palästinensische Autonomiebehörde spielen, immerhin internationaler Repräsentant des palästinensischen Volkes?
Als einziger internationaler Repräsentant ist sie ein natürlicher Ansprechpartner. Aber es stellt sich die Frage, was sie leisten kann. Aktuell befindet sie sich in keinem guten Zustand. Ihr Präsident Abu Mazen ist fast 88 Jahre alt. Netanjahu und seine Regierung haben sie über Jahre geschwächt. In Gaza wurde sie von der Hamas in einem Staatsstreich abgesetzt. In der West Bank hat sie die Hamas bekämpft und noch bis vor Kurzem erfolgreich verhindert, dass die Hamas von dort Terrorattacken startet. Aber nach Gaza könnte die Palästinensische Autonomiebehörde nur eskortiert von israelischen Waffen zurückkehren. Legitimität hätte sie dann auch nur, wenn es einen wirklichen politischen Plan gäbe, wenn Israel sich einer Zwei-Staaten-Lösung verpflichtet sehen würde. Dann würde die Palästinensische Autonomiebehörde nicht als Marionette Israels gesehen. Aber dafür bräuchte es in der israelischen Regierungskoalition die Bereitschaft zu einer politischen Lösung. Und die geht aktuell gegen null.

In Osteuropa wurden nach dem Fall der Mauer systematisch politische Führungspersönlichkeiten aufgebaut. Gibt es niemanden in der jungen Generation der Palästinenser, ein politisches Talent, das sich eignen würde?
Bei der Palästinensischen Autonomiebehörde gibt es keinen klaren Nachfolger für Abu Mazen. Es wird auch niemand aufgebaut. Wir befinden uns in einer furchtbaren Situation. Die Israelis hatten das Interesse an der Palästinenser-Frage verloren, weil sie mit dem Abraham-Abkommen auf eine Normalisierung der Beziehung zu den Arabern hofften. Jetzt verstehen alle, sowohl die Weltgemeinschaft, als auch die israelische Öffentlichkeit, dass der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern Auswirkungen auf die Stabilität der ganzen Region hat. Er kann zu einer Eskalation im ganzen Nahen Osten führen.

Es soll nicht zynisch klingen, aber dieser Krieg wird teuer. Gibt es darüber eine Diskussion in Israel?
Der Überfall der Hamas hat Israel traumatisiert – und der Krieg wird zu Recht als eine Frage des Überlebens gehen. Die Kosten werden in den öffentlichen Debatten beiseitegeschoben. Aber vor dem Angriff der Hamas am 7. Oktober hat die Regierung Geld recht freigiebig ausgegeben und zumeist an die weniger populären Teile der israelischen Gesellschaft weitergereicht, besonders an die Ultraorthodoxen. Sie stehen in der Kritik, weil sie nicht arbeiten und nicht in der Armee dienen. Nun gibt es einen öffentlichen Aufschrei, dass dieses Geld für den Wiederaufbau nach der Zerstörung der Hamas verwendet werden soll. Die Regierung wird unter Druck geraten, ihre Wirtschaftsprioritäten zu ändern. Für Netanjahu wird es angesichts des öffentlichen Ärgers schwierig, seine Koalition aufrecht zu erhalten. Bei der Diskussion über die Zeit nach dem Krieg spielt natürlich auch die Idee eines Marshallplans für Gaza und die West Bank eine Rolle. Die Europäische Union kann dabei eine wichtige Rolle übernehmen. Die EU hat ja in den vergangenen drei Jahrzehnten Mittel zur Verfügung gestellt. Aber es geht um eine echte Verpflichtung: Die EU sollte sich beim Capacity-Building engagieren und dann auch eine Rolle bei den politischen Lösungen spielen.

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Sie haben das Abraham-Abkommen erwähnt, das die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Marokko mit Israel abgeschlossen haben, Saudi Arabien will beitreten. Ist das Abkommen tot nach den Anschlägen vom 7. Oktober?
Absolut nicht. Ich glaube nicht, dass dieses Abkommen annulliert wird. Aber allen Seiten muss nun bewusst sein, dass sie die Palästinenserfrage nicht ignorieren können. Sie müssen sich damit beschäftigen.

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