Nato „Russlands Angriffskrieg ist keine Reality-TV-Show, die wir einfach ausschalten können“

Wie kann die Nato die Ukraine unterstützen? Quelle: imago images

Die Nato will die Ukraine mit Milliardenhilfen unterstützen – und lenkt vom Kern des Problems ab, sagt die ehemalige Nato-Mitarbeiterin Stefanie Babst. Eher sollte über einen Beitritt der Ukraine gesprochen werden.

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WirtschaftsWoche: Frau Babst, der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat ein fünfjähriges Militärhilfspaket im Wert von 100 Milliarden Euro für die Ukraine vorgeschlagen. Ist das die Kehrtwende im Ukraine-Krieg?
Stefanie Babst: Herr Stoltenberg und sein Team suchen nach einem sogenannten „Deliverable“ für den Nato-Gipfel im Juli, also nach einer politischen Ankündigung, die sie als etwas Neues verpacken können. Die Nato ist stets auf der Suche nach solchen „Deliverables“, damit sie Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit demonstrieren kann.
Eigentlich sollte es bei dem Gipfel in Washington im Juni in meinen Augen nur um eine zentrale strategische Frage gehen: Können die Nato-Mitglieder die Courage aufbringen, endlich die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beginnen?

Wie ist die Einstellung der Mitglieder zu einem möglichen Nato-Beitritt der Ukraine?
In Washington und Berlin gibt es nach wie vor Bedenken bei diesem Thema, deswegen wird möglichst nach etwas anderem gesucht, was mit einem attraktiven Label verziert werden kann. Der Generalsekretär hat jetzt erst mal einen Vorschlag gemacht und den werden die Mitglieder in den nächsten Wochen inhaltlich diskutieren und sicher zum Teil zerpflücken.

Grundsätzlich gibt es nicht viel an dieser Ankündigung zu mäkeln, sie kommt in meinen Augen nur zu spät und ist mit ähnlichen gemeinsamen Initiativen von EU und der G7 unkoordiniert. Finanzielle Planungssicherheit ist für die Ukraine natürlich wichtig, aber mehr als finanzielle Absichtserklärungen der Bündnispartner benötigt sie jetzt mehr Waffen. Stoltenbergs Vorschlag ist sicherlich kein strategischer Gamechanger.

Quelle: Privat

Zur Person

Ist der Hintergrund von Stoltenbergs Ankündigung, dass er die kommenden Jahre finanziell sicherer planen möchte?
Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert nun schon länger als zwei Jahre – und da fällt es der Nato jetzt ein, dass längerfristig geplante und besser koordinierte Unterstützung sinnvoll sein könnte? Natürlich ist das immer gut und richtig, langfristig zu planen. Aber es ist bereits seit Jahren klar, dass die strategische Auseinandersetzung mit Russland eine längerfristige Angelegenheit ist. Stattdessen verliert sich die Nato in unterschiedlichen und bilateralen Ad-hoc-Versprechungen. Das erinnert mich sehr an die Nato-Operation in Afghanistan.

Schneller schlau: Nato

Wie könnten die 100 Milliarden Euro für das Hilfspaket der Nato finanziert werden?
Die Nato-Mitglieder werden in den nächsten Wochen versuchen, sich auf einen Verteilungsschlüssel zu einigen. Die Nato hat drei Haushalte: Einen militärischen, einen zivilen und einen für sogenanntes Common Funding, eine Art Gemeinschaftstopf, aus dem beispielsweise Ausgaben für die militärische Kommandostruktur oder gemeinsame Fähigkeiten gezahlt werden. Dieser Topf könnte um einen Posten Ukraine-Hilfe erweitert werden. Die Verhandlungen darüber dürften schwierig werden, weil nicht alle Mitglieder – wie zum Beispiel Ungarn oder die Türkei – einen ausgeprägten Willen haben dürften, in einen solchen Topf einzuzahlen. Andere werden sagen: Unsere bilaterale finanzielle Hilfe ist bereits mehr als großzügig. Ich denke, es wäre mehr als sinnvoll, einen solchen ‚Nato-Topf‘ eng mit der EU zu koordinieren. Diese hat ja bereits vor ein paar Wochen 50 Milliarden Euro an Militärhilfen für die Ukraine verabschiedet.

Was genau soll mit den 100 Milliarden Euro finanziert werden? Liefert die Nato dann Waffen an die Ukraine und konkurriert am Waffenmarkt mit der EU und den Mitgliedstaaten?
Nein, die Nato wird keine einzige Waffe liefern. Die Nato als Organisation besitzt keine Waffen, sondern nur einige militärische Fähigkeiten wie beispielsweise Aufklärungsflugzeuge, sogenannte AWACS, die die Mitglieder gemeinschaftlich bezahlen. Alles andere, jede Wolldecke, jeder Helm, jedes Gewehr, wird von den Nato-Staaten finanziert und geliefert.

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von Max Biederbeck, Angelika Melcher

Stoltenbergs Plan sieht auch vor, dass die Nato einen Teil der Koordinierungsarbeit von der US-geführten sogenannten Ramstein-Gruppe übernimmt.
Auch dieser Schritt ist längst überfällig und hätte bereits vor zwei Jahren geschehen müssen. Mit der Übernahme gäbe es mehr Transparenz zwischen den Verbündeten und Koordinationsklarheit.
Die USA geben die Ramstein-Gruppe allerdings nur ungern aus der Hand, weil sie dadurch ein wichtiges politisches Instrument verlören. Auch Deutschland hat immer gegen eine Übernahme argumentiert, weil es die Nato zu sehr zu einer Kriegspartei machen würde, so die Bundesregierung.

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Welches Zeichen sendet das in Richtung USA? Will die Nato sich gegen eine Wiederwahl Donald Trumps als US-Präsident wappnen?
Übertrüge man die Ramstein-Gruppe in Gänze der Nato, wäre das zu mindestens eine Rückversicherung, dass diese Funktion auch unter einer zweiten Trump-Präsidentschaft weitergeführt werden könnte. Aber der Blick auf Trump reicht nicht aus. Das eigentliche strategische Thema ist, wie wir der Ukraine helfen können, zu überleben. Sollte die Ukraine als Staat zerfallen oder von Russland dauerhaft militärisch besetzt bleiben, wird Europas Sicherheit gewaltigen Schaden nehmen. Aber das haben viele offenbar immer noch nicht verstanden; sonst würden sie der Ukraine ausreichend militärische Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Die Situation auf dem Schlachtfeld sähe auch deutlich anders aus, wenn wir bestimmte Waffensysteme nicht auch noch unter Restriktionen stellen würden. Die Ukraine kämpft mit dem Rücken an der Wand.



Was muss die Nato tun, um der Ukraine zu helfen?
Wir müssen endlich einen strategischen Paradigmenwechsel einleiten, unter anderem, indem wir mit Nato-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beginnen. Und wir müssen überlegen, wie wir im westlichen Teil der Ukraine langsam eine Nato-Präsenz aufbauen könnten. Ohne solche Schritte wird Wladimir Putin einfach immer weitermachen und die Ukraine nach und nach vernichten.

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Könnte eine Nato-Präsenz in der Ukraine eine Eskalation mit Russland provozieren?
Ich weiß nicht, warum alle Welt sich immer diese Frage stellt. Das Terrorregime in Moskau eskaliert seit über zwei Jahren jeden einzelnen Tag seinen Angriffskrieg gegen die Ukrainer – und wir gucken ängstlich zu. Allein im letzten Monat hat Moskau über 3000 Raketen und Drohnen auf ukrainische Städte abgefeuert. Menschen sterben dort jeden Tag. Der Krieg in der Ukraine ist keine Reality-TV-Show, die wir nach zehn Minuten ausschalten können. Und der 75. Jahrestag der Nato ist für die Verbündeten kein Grund, sich zu feiern. Sich weniger in der Öffentlichkeit darstellen und mehr strategischen Mut aufbringen – das wäre eine adäquate Ansage.

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