Tauchsieder
Ukrainer sammeln Holz zum heizen, weil die Russen ihre Energieinfrastruktur zerstören. Die deutsche Nationalelf hält sich selbst den Mund zu und verliert das WM-Auftaktspiel gegen Japan. Quelle: REUTERS

Besinnungslos (un-)moralisch

Russland quält Frauen, Kinder und Alte in der Ukraine, will sie erfrieren und hungern sehen. Ein Völkermord in Zeitlupe. Und wir? Schweigen schulterzuckend. Blicken nach Katar. Tadeln die Fifa. Blödeln scheinheilig rum.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Nachrichten über den „Ukraine-Krieg“ klingen inzwischen wie Wetterberichte: „Bei russischen Raketenangriffen auf die zivile Infrastruktur sind nach ukrainischen Angaben mehrere Menschen getötet und viele verletzt worden. Im gesamten Land wurde Luftalarm ausgelöst, in mehreren Regionen fiel der Strom aus.“

Und damit fängt es schon an. Raketenangriffe fallen in einem Krieg, der nach seinem Opfer benannt wird, vom Himmel, wenn man nur dafür sorgt, dass eine adverbiale Bestimmung des Grundes („bei russischen Raketenangriffen“) das Subjekt ersetzt; dann ist alle Verantwortung sprachlich getilgt, dann ist der Täter aus dem Spiel, dann konjugiert sich das Töten und Verletzen wie von selbst ins Passiv, dann bricht der Krieg in der Ukraine schicksalhaft über die Menschen herein wie ein Unwetter oder ein Erdbeben: „In mehreren Regionen fiel der Strom aus.“

Damit fängt es schon an: Dass viele Medien nicht mehr berichten, was ist, in klaren, einfachen Sätzen, Subjekt, Prädikat, Objekt. Dass nicht vom „Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine“ die Rede ist. Dass die Nachrichten sich nicht so lesen: „Russlands regierender Kriegsverbrecher Wladimir Putin zerstört seit dem 10. Oktober systematisch Kraftwerke, Wasserversorger und Fernwärmesysteme in der Ukraine, um Männer und Frauen, Alte und Kinder dort erfrieren und hungern zu sehen, sie zu töten und zu vertreiben.“

Putin metzelt und mordet, vertreibt Millionen, verheert die Ukraine, erniedrigt sein Land – aber Macron sorgt sich, Russland könnte sich gedemütigt fühlen. Und Kanzler Scholz? Findet sich großartig. Ein Trauerspiel.
von Dieter Schnaas

Damit fängt es schon an. Aber damit hört es noch lange nicht auf. Das wichtigste politische Thema in Europa ist nicht mehr das wichtigste Thema in europäischen Regierungszentralen, Parlamenten und Medienredaktionen. Am Freitag zum Beispiel war im politischen Buch einer überregionalen Tageszeitung kein einziges Stück mehr über den Krieg zu lesen.

Und die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwoch im Bundestag? Sie erstreckt sich im Protokoll über 14 lange Spalten, in denen es aus fast jeder Zeile selbstsalbungsvoll trieft, ganz gleich, ob der Kanzler über das „Bürgergeld“ oder den Mindestlohn spricht, über seine China-Reise oder über den G20-Gipfel; allein zur Lage in der Ukraine fällt dem deutschen Regierungschef in aller Beiläufigkeit der kindischste aller Sätze ein: „Russland muss endlich aufhören mit diesem Krieg.“

Kein Wort des Kanzlers darüber, dass das EU-Parlament Russland fast zeitgleich zu einem Staat erklärt hat, der „terroristische Mittel“ einsetzt, um seine Ziele zu erreichen, immerhin das. Kein Wort der Selbstkritik, dass die Ukraine mitten in Europa (und mehr als zwanzig Jahre nach dem Kosovo-Krieg) ohne die Unterstützung der USA längst eine russische Provinz wäre. Kein Wort der Scham, dass die Finanzhilfen der USA für die Ukraine noch immer doppelt so hoch sind wie die Finanzhilfe aller EU-Länder und der EU.

Statt dessen klopft der Kanzler sich einmal mehr selbst auf die Schulter: „Es ist diese Bundesregierung, die entgegen einer jahrzehntelangen Staatspraxis die Entscheidung getroffen hat, die Ukraine mit den Waffen zu unterstützen, die sie in ihrem tapferen Verteidigungskampf Tag für Tag braucht.“

Ach, wirklich? Liest der Kanzler keine Zeitung mehr? Oder bekommt er die Nachrichten über den „Ukraine-Krieg“ von seinen Beratern nicht mehr in anständiges Deutsch übersetzt? In Kiew müssen seine Worte wie Hohn klingen.

Denn spätestens seit dem 10. Oktober kann sich die Ukraine nicht ausreichend verteidigen, so „tapfer“ ihre Menschen auch sind: Das ist die Nachricht. Das ist seit sieben Wochen Stand der Dinge. Das ist es, was mit Blick auf den Winter primär politisch adressiert und organisiert gehörte: die militärische, finanzielle, humanitäre und medizinische Hilfe für die Ukraine. Nicht zuletzt im eigenen Interesse. Es ist wahrscheinlich, dass Putin in den nächsten Monaten noch einmal Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer nötigt, sich in Züge nach Warschau und Berlin zu retten.   

Und ausgerechnet vor dieser Kulisse – die politische Marginalisierung des von Putin herbei gebombten Notstands in der Ukraine; die sprachliche Indifferenz, dank der wir das „Kriegsgeschehen“ zusehends newsneutralisierend auf Distanz bringen; die moralische Selbstgewöhnungs-Blindheit gegenüber dem „Schicksal“ der Menschen dort – ausgerechnet vor dieser Kulisse kommt nun also das Spektakel der Scheinmoral rund um die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar zur Aufführung: Was für eine Farce!

Und alle spielen lustvoll mit. Vorneweg Gianni Infantino, der Chef des Weltfußballverbands Fifa, der seiner roten Haare wegen als Kind gehänselt wurde und sich deshalb heute manchmal so zernichtet fühlt wie ein Gastarbeiter aus Bangladesch, der gerade vom Gerüst gefallen ist, manchmal aber auch wie ein Schwuler, der in einem katarischen Gefängnis die Chance ergreift, seinen „geistigen Schaden“ aus dem Leib geprügelt zu bekommen. Oder Nancy Faeser, die deutsche Innenministerin, die während des ersten Spiels der deutschen Nationalmannschaft den „schweren Weg“ auf die Ehrentribüne einschlug, um sich Infantilo todesmutig mit einer Kapitänsbinde am Arm in den Weg zu stellen.

Scheinmoral auf offener Bühne

Oder die deutschen Luxusgladiatoren, die keine gelbe Karte riskieren mögen für das, was ihnen wahnsinnig wichtig ist, weil ihre „sportlichen Träume“ (Thomas Müller) ihnen halt noch einen Tick wichtiger sind. Oder Robert Habeck, der deutsche Wirtschaftsminister, der noch vor einem halben Jahr in Doha buckelte, um den Scheichs seine unendliche Dankbarkeit für ihre Hilfe zur Lösung des deutschen Gasproblems zu bezeigen – und der nun ausgerechnet von einem Fußballer politisches Rückgrat einfordert: Einer wie er würde es „darauf ankommen lassen“, so Habeck – und an Manuel Neuers Stelle natürlich die von der Fifa verbotene Kapitänsbinde tragen: „Es wäre ein moderater Protest.“

Oder Harry Kane, der englische Stürmer, der sich vor dem Spiel gegen Iran seine halbe Million schwere Rainbow-Rolex überstreifte, um seiner verqueeren Moral Ausdruck zu verleihen. Oder Rewe, der superwoke Lebensmittelkonzern, der seit 14 Jahren zu den Sponsoren der Nationalelf zählt, dem aber natürlich erst jetzt auffallen konnte, dass es sich bei der FIFA um einen korrupten Sauhaufen handelt und dass die Menschenrechte in Katar nicht mitteleuropäischen Standards genügen – also her mit der Schlagzeile und Schluss mit der (längst beschlossenen) Zusammenarbeit!

Genug. Die Liste der Peinlichkeiten ließe sich unendlich fortsetzen. Die Scheinmoral steht als Ensemble symbolischer Gesten grell ausgeleuchtet auf offener Bühne – und aus den Kulissen tritt feixend Mephistopheles hervor, um ihre Exponenten der Reihe nach als Musterbeispiele der Verlogenheit vorzuführen. Aber warum ist das so? Warum müssen diese Gesten missglücken?

Kanzler Olaf Scholz agiert ohne Gespür für die historische Dimension des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Er zaudert sich durch die „Zeitenwende“ – und riskiert Deutschlands Restreputation in Osteuropa.
von Dieter Schnaas

Erstens, weil sich in ihnen eine moralische Eindeutigkeit ausdrücken soll, die es in einer moralisch uneindeutigen Welt nicht gibt. Zweitens, weil vereinzelte, situationsbedingte Gesten („Wir lassen uns den Mund nicht verbieten“) eine punktuelle, opportunistische Moral annoncieren, die die Aufmerksamkeit des Publikums geradezu hinlenkt auf den Mangel eines generalisierbaren, konsistenten moralischen Handelns. Und drittens, weil das Gefälle zwischen der symbolischen Freiheit, die sich Menschen in liberalen Demokratien herausnehmen können („Regenbogen-Armbinde“) und der Freiheit, die sich Menschen gegen Autokratien herauszunehmen wagen (Nationalspieler aus Iran, die die Nationalhymne nicht singen) unüberbrückbar groß ist.

Die moralische Indifferenz fängt im Bereich des Politischen etwa bei der Frage an, wie man hierzulande auf Russland, China und Katar blickt. Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist ein seltenes Beispiel moralischer Eindeutigkeit: Russland hat EU-Europa zu seinem Feind erklärt und der Bundesrepublik mit dem Atomtod gedroht, greift unsere Werte in Europa an – und doch gibt es in Berlin noch immer Stimmen, die einen Ausgleich mit Putin suchen. Und doch kommt niemand beim DFB auf die Idee, Manuel Neuer in Katar mit einer gelb-blauen Kapitänsbinde auszustatten, um Solidarität mit der Ukraine zu annoncieren. Warum eigentlich nicht? Nirgends in Europa sind die Menschenrechte derzeit stärker eingeschränkt. Kein politisches Anliegen ist geeigneter, moralisches Empfinden, moralisches Handeln und moralisches Symbolhandeln sinnfällig kurzzuschließen.

China wiederum hat sich Hongkong einverleibt und droht Taiwan zu erobern, es radiert die Kultur der Uiguren aus und sperrt Millionen Menschen ein, weil Generalsekretär Xi zu nationalstolz und kontrollwütig ist, um seine Untertanen mit Biontech oder Moderna impfen zu lassen. Aber China hat in den vergangenen 30 Jahren eben auch, ganz anders als Russland, das mit Abstand erfolgreichste Modernisierungsprojekt der Menschheitsgeschichte initiiert. Es hat in enger Zusammenarbeit mit Europa die Lebenschancen von 500 Millionen Menschen maximiert – übrigens auch aller Frauen. Und es hat sich, anders als die USA, noch keines völkerrechtswidrigen Krieges schuldig gemacht. Warum also ist China seit zwei, drei Monaten der Deutschen Lieblingsfeind?

In Katar wiederum wird die Hälfte der Bevölkerung religionskulturell kleingehalten, es werden Schwule eingesperrt, Bangladeshi wie Sklaven gehalten – aber das LNG-Gas, das hätten wir doch schon gerne. Und natürlich die fossilen Milliarden, die Gas- und Öleinnahmen, mit denen die Kataris (und Saudis und Emiratis) unsere Dax-Konzerne päppeln. Oder unsere Fußballklubs. Oder Terroristen, die sich mitten unter uns in die Luft sprengen. Oder Formel-1-Events und Louvre-Museen. Oder klimatisierte Retortenstädte, in denen sich unsere Influencer geschäftsmäßig tummeln und in denen wir so gern zwischenlanden für zwei, drei Tage.

Kurzum, die Kataris haben völlig Recht: Die punktuelle Wucht der Kritik an ihrem Land in den acht Wochen vor, während und (mutmaßlich) nach der Fußball-Weltmeisterschaft stellt vor allem ihre Absender bloß – zumal dann, wenn sich zwischen primär deutschland-adressierter Augenblicksgeste und deutschland-interessierter Realität, zwischen der  Moral der Kapitänsbinde und der Moral der WM-Teilnahme (plus Gas-Lieferungen plus Dax-Milliarden) – ein Abgrund des Selbstbetrugs auftut.

Entgeltumwandlung Lohnt sich betriebliche Altersvorsorge?

Einen Teil des Gehalts für betrieblich Altersvorsorge einsetzen: Rechnet sich das? Und: Geht es auch mit Aktien? Eine Fallanalyse.

Bayer-Umbau Die Frau, die Bayers radikalen Umbau organisieren muss

Heike Prinz startete als Sekretärin, jetzt ist sie im Vorstand für den radikalen Umbau von Bayer zuständig, der auf der Hauptversammlung für Zündstoff sorgt. Sie muss viele Manager entlassen – und den Rest überzeugen.

Rezept zum Reichwerden? Das steckt hinter dem System von Deven Schuller

Ein selbsternannter Finanzexperte will seinen Kunden laut eigener Aussage dabei helfen, finanzielle Freiheit zu erreichen, und pflastert das Internet mit Werbung. Was steckt dahinter? Ein Selbstversuch.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Ein Abgrund, der umso weiter aufreißt, weil eine luxurierend expandierende „Wozu-Freiheit“ in liberalen Demokratien sich inzwischen in müden, selbstkongratulatorischen Gesten zu erschöpfen scheint, jedenfalls so schwach ist, dass ihre Fußballverbände sie nicht einmal mehr gebrauchen, um sich der Fifa zu entledigen – während dieselben liberalen Demokratien nurmehr einen schwachen Sinn dafür entwickeln, dass die elementarsten „Wovon-Freiheiten“ - nicht zu hungern, nicht zu frieren, sich nicht zu ängstigen, nicht in der Macht eines anderen zu stehen – in diesen Wochen vor unser aller Augen und in unmittelbarer Nachbarschaft umfassend eingeschränkt sind. Die traurige Doppelbotschaft der Nationalspieler: Wir lassen uns den Mund von der Fifa eben doch verbieten. Und reißen ihn schon gar nicht auf, wenn’s moralisch unbedingt geboten ist.

Lesen Sie auch: Die Ukraine darf den Krieg nur erdulden, nicht gewinnen. Die Regierung verzwergt Bürger zu barmenden Bittstellern. Der Ampel-Chef agiert arrogant, ignorant, instinktlos. Eine Bilanz des Schreckens nach sechs Monaten Zeitenwende.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%