Wirtschaftsleistung Läuft uns Indien den Rang ab?

Panorama der indischen Stadt Mumbai. Quelle: imago images

Indien könnte Deutschland wirtschaftlich bald überholen. Doch sicher ist diese Entwicklung noch nicht. Scheitert Modi an seinem eigenen Erfolg?

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In sechs Wochen wird Narendra Modi voraussichtlich eine dritte Amtszeit als indischer Premierminister antreten und damit seinen Status als wichtigster Staatsmann seit Nehru festigen. Der Wahlerfolg des Sohnes eines Teeverkäufers spiegelt sein politisches Geschick, die Kraft seiner hindu-nationalistischen Ideologie und die Aushöhlung der demokratischen Institutionen wider. Aber er ist auch ein Ausdruck des Gefühls der einfachen Wähler und der Eliten, dass er Indien Wohlstand und Macht bringt.

Das Indien Modis ist ein Experiment, um zu zeigen, wie man in Zeiten der Deglobalisierung und unter der Führung eines starken Mannes reicher werden kann. Ob das Land es schafft, in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren schnell zu wachsen und Unruhen zu vermeiden, wird das Schicksal von 1,4 Milliarden Menschen und der Weltwirtschaft bestimmen. Bis zu einem gewissen Grad funktioniert Modis Rezept. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Erfolg Indiens von Dauer sein kann und ob er davon abhängt, dass er an der Macht bleibt.

Indien, das am schnellsten wachsende Flächenland der Welt, erreicht eine jährliche Zuwachsrate von sechs bis sieben Prozent. Neue Daten zeigen, dass die Zuversicht des Privatsektors den höchsten Stand seit 2010 erreicht hat. Das Land ist bereits die fünftgrößte Volkswirtschaft und könnte bis 2027 den dritten Platz hinter Amerika und China erobern.

Indiens Einfluss zeigt sich auf eine andere Art und Weise. Amerikanische Firmen haben 1,5 Millionen Mitarbeiter in Indien, mehr als in jedem anderen Land. Der indische Aktienmarkt ist der viertwertvollste der Welt, während der Luftfahrtmarkt an dritter Stelle steht. Indiens Ankäufe von russischem Öl beeinflussen die Weltmarktpreise. Steigender Wohlstand bedeutet mehr geopolitisches Gewicht.

Nachdem die Huthi-Rebellen den Suez-Kanal gestört hatten, entsandte Indien zehn Kriegsschiffe in den Nahen Osten. Die Präsidenten Joe Biden und Donald Trump warben um das Land, ohne zu bestreiten, dass es ein unabhängiger Akteur bleiben wird.
Wenn Sie auf der Suche nach dem „nächsten China“ sind – einem Produktionswunder – dann ist es sicherlich nicht Indien. Das Land entwickelt sich in einer Zeit, in der der Warenhandel stagniert und die Fabriken zunehmend automatisiert werden. Daher benötigt es ein neues Wachstumsmodell.

Eine tragende Säule dieses Modells ist bereits bekannt: ein massives Infrastrukturprogramm, das einen riesigen Binnenmarkt zusammenhält. Indien hat 149 Flughäfen, doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren, und baut jährlich 10.000 Kilometer Straßen und 15 Gigawatt Solarenergiekapazität aus. Einige dieser Infrastrukturmaßnahmen sind nicht physisch greifbar, wie etwa der digitale Zahlungsverkehr, moderne Kapitalmärkte und Banken sowie ein einheitliches digitales Steuersystem. All dies ermöglicht es den Unternehmen, volkswirtschaftliche Skaleneffekte zu nutzen.

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Eine zweite, neuere Säule sind die Dienstleistungsexporte, die zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Der globale Handel mit Dienstleistungen nimmt weiter zu, und indische Unternehmen haben sogenannte „Global Capability Centres“ auf den Weg gebracht – Zentren, die multinationalen Unternehmen Forschungs- und Entwicklungsleistungen sowie Dienstleistungen wie Rechtsberatung und Buchhaltung anbieten.

Doch trotz seiner schicken Technologiezentren ist Indien immer noch eine ländlich geprägte Gesellschaft. Das erklärt die letzte Säule des Wirtschaftsmodells, eine neue Form des Wohlfahrtssystems, bei dem Hunderte von Millionen armer Inder digitale Transferzahlungen erhalten. Neue Daten deuten darauf hin, dass der Anteil der Bevölkerung, der mit weniger als 2,15 Dollar pro Tag (in Preisen von 2017) auskommen muss – ein weltweites Maß für Armut –, von zwölf Prozent im Jahr 2011 auf unter fünf Prozent gefallen ist.

Wie viel Anerkennung verdient Modi hierfür? Seine erfolgreichsten Maßnahmen beruhen auf der liberalen Agenda, die in den 1990er- und 2000er-Jahren in Indien entstanden ist, aber daran ist nichts auszusetzen. Ihm gebührt Anerkennung dafür, dass er ins Stocken geratene Reformen durchgesetzt, wichtige Entscheidungen persönlich überwacht und Nachzügler und Gegner in der Bürokratie zurechtgestutzt hat. Manche sagen, er habe Vetternwirtschaft gefördert.

Doch obwohl einige große Unternehmen begünstigt werden, nimmt die Konzentration in der Wirtschaft ab, die Korruption ist zurückgegangen und die Wirtschaft ist vielfältig. Modi ist eine Mischung aus Konzernchef und Populist, der PowerPoint-Präsentationen ebenso liebt wie Kundgebungen. Wenn er fünf weitere Jahre regiert, wird Indien weiter rasant wachsen. Das gilt auch für die Mittelschicht: 60 Millionen Menschen verdienen mehr als 10.000 Dollar im Jahr; bis 2027 werden es 100 Millionen sein, schätzt Goldman Sachs, eine Bank, die inzwischen 20 Prozent ihrer Mitarbeiter in Indien beschäftigt.

Dennoch steht Indien vor einem gewaltigen Problem. Von einer Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von einer Milliarde Menschen haben nur etwa 100 Millionen einen regulären Arbeitsplatz. Die meisten anderen stecken in Gelegenheitsarbeiten oder in der Arbeitslosigkeit fest. Die bescheidenen Anfänge Modis helfen ihm, diese Menschen zu erreichen.

Um einen Teil der überschüssigen Arbeitskräfte Indiens zu binden, nutzt er ein staatliches Anreizsystem zur Förderung der verarbeitenden Industrie. Doch selbst wenn das Programm seine Ziele erreicht, werden dadurch nur sieben Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Der Plan von Präsident Xi Jinping für einen chinesischen Exportschub wird die Aufgabe nur noch schwieriger machen.

Indiens Wirtschaft muss eine große Zahl von Arbeitsplätzen schaffen, um ihr Wachstum aufrechtzuerhalten. Ein möglicher Ansatz wäre ein noch größerer IT-Sektor, der als Drehscheibe für eine sich digitalisierende Welt fungiert, und ein Cluster von Exportindustrien, einschließlich digitaler Finanz-, Lebensmittel- und Verteidigungsindustrien (wobei stärkere Verbindungen zu Amerika hilfreich wären).

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Die Konsumausgaben der Arbeitnehmer in diesen Branchen würden wiederum mehr Arbeitsplätze in anderen Sektoren schaffen, vom Baugewerbe bis zu Hotels. Ein effizienter Binnenmarkt würde die Gesamtproduktivität steigern, und eine gezielte Sozialhilfe könnte denjenigen helfen, die zurückbleiben. Dazu müsste Indien das Bildungswesen und die Landwirtschaft umgestalten und eine viel stärkere Migration aus dem bevölkerungsreichen Norden in die großen Städte im Süden und Westen ermöglichen.

Gemessen an diesen epischen Maßstäben hat Modi zu wenig zu sagen. Seine Bharatiya Janata Party (bjp) hat zwar einige Talente und Ideen, konzentriert sich aber hauptsächlich auf Ideologie und Muslim-Hetze. Ein zunehmender Illiberalismus hat die politische Opposition und die Meinungsfreiheit beschnitten. Die Tatsache, dass die Unternehmen Modi fürchten, könnte erklären, warum die Investitionen noch nicht in die Höhe geschnellt sind. Der Prozess der Anpassung der Gesellschaft an den großen gesellschaftlichen Wandel in den 2030er-Jahren hat gerade erst begonnen.

Die Neugestaltung des Bildungswesens, der Städte und der Landwirtschaft erfordert die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen der Bundesstaaten, die nicht von der bjp geführt werden, und den gesellschaftlichen Gruppen, die mit dem Umbruch konfrontiert sind. Doch der widerspenstige Kurs Modis hat viele von ihnen auf Distanz gehen lassen.

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Die Frage für Indien und seine schwergewichtige Wirtschaft ist nicht, ob Modi gewinnt, sondern ob er sich weiterentwickeln wird. Mit 73 Jahren könnte er feststellen, dass seine Führungsfähigkeiten schwinden. Um eine neue Reformagenda auf die Beine zu stellen, die mit der aus den 1990er-Jahren hervorgegangenen vergleichbar ist, und um eine florierende wissensbasierte Wirtschaft zu fördern, die die Menschen für ihr eigenständiges Denken belohnt, wird er seine autokratischen Impulse zügeln müssen. Um mehr in- und ausländische Investitionen anzuziehen und einen wachstumsorientierten Nachfolger zu finden, wird seine Partei ihre chauvinistische Politik zügeln müssen. Andernfalls wird Modis Mission der nationalen Erneuerung nicht das halten, was sie verspricht.

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Dieser Artikel entstammt der Seite Economist.com. Er wurde übersetzt von Sebastian Schug und unter Lizenz publiziert. Der Originalartikel auf Englisch ist hier zu finden: How strong is India’s economy?

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