Asylpolitik „Ein abgelehnter Asylbewerber, der keine Angaben zur Herkunft macht, ist kaum abzuschieben“

Schnell abschieben und in den Flieger setzen? So einfach ist das nicht, sagt der Richter Philipp Wittmann. Quelle: imago images

Der Bund will mehr und schneller abschieben. Geht das überhaupt? Und woran scheitern Rückführungen bisher in der Praxis? Richter Philipp Wittmann gibt Antworten zu Wille und Wirklichkeit in der deutschen Asylpolitik.

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WirtschaftsWoche: Herr Wittmann, in welchen Fällen schalten Menschen das Gericht ein, um Abschiebungen zu verhindern? 
Philipp Wittmann: Häufig geht es um die familiäre Situation. Die Betroffenen haben also Familienangehörige, die ohne sie zurückbleiben würden. Oft geht es auch um Menschen, die vorhaben, einen deutschen Partner zu heiraten und durch die Eheschließung im Bundesgebiet gegebenenfalls ein Aufenthaltsrecht erwerben könnten. Die Frage vor Gericht: Muss den Betroffenen eine standesamtliche Trauung in Deutschland ermöglicht werden oder kann die Abschiebung vorher stattfinden?

Ende Juni waren rund 280.000 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig. Etwa die Hälfte von ihnen sind abgelehnte Asylbewerber. Woran scheitern ihre Abschiebungen?
Zuerst einmal: Es gibt in Deutschland viele verschiedene Formen des Schutzes auch jenseits des Asylrechts und des internationalen Schutzes. Als abgelehnte Asylbewerber gelten daher zum Beispiel auch solche Ausländer, die wegen eines nationalen Abschiebungsverbots nicht abgeschoben werden dürfen, zum Beispiel wegen Gesundheitsgefahren im Zielstaat. 

Und wenn man nur auf Menschen blickt, die wirklich keinen Schutzanspruch haben?
Dort ist häufig ein Problem, dass die Herkunftsstaaten die abgelehnten Asylbewerber nicht zurücknehmen. Deutschland kann alles tun, um jemanden in einen Flieger zu setzen, ob er am Ziel auch aussteigen darf, entscheidet der Zielstaat. Hinzu kommt, dass in einer Vielzahl von Fällen das Herkunftsland nicht bekannt oder nicht zu beweisen ist, wo die Menschen herkommen – zum Beispiel wenn Menschen in einem Grenzgebiet aufgewachsen sind. Dann gibt es keinen Zielstaat. In anderen Fällen verschweigen abgelehnte Asylbewerber ihr Herkunftsland, um eine Abschiebung zu verhindern.

Zur Person

In welchen Fällen werden Menschen in Deutschland noch geduldet?
Zum Beispiel, wenn familiäre Bindungen nach Deutschland bestehen oder die Personen aus gesundheitlichen Gründen die Rückreise nicht zumutbar ist. Wer ausreisepflichtig ist, aber ein deutsches Kind hat und dafür Fürsorge übernimmt, kann unter Umständen ebenfalls hierbleiben.

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Eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass die Ausländerbehörden überlastet sind. Ein weiterer Grund, warum bisher eher wenig abgeschoben wird?
Das ist für mich schwer zu beurteilen. Aber auch ich höre, dass die Behörden massiv überlastet sind. Ich war erst vor kurzem auf einer Tagung, auf der diskutiert wurde, ob zum Beispiel mehr Plätze in der Abschiebehaft helfen, das Problem zu lösen. Mir schien aber der Einwand sehr plausibel, dass es im Moment ein viel größeres Hindernis ist, dass die Behörden die Fälle nicht abgearbeitet bekommen und bestehende Kapazitäten nicht ausnutzen.

Die Bundesregierung will schneller abschieben. Der Gesetzesentwurf von Bundesinnenministerin Nancy Faeser sieht unter anderem vor, dass leichter Handys und Schließfächer zur Identitätsfeststellung durchsucht werden dürfen. Zudem soll die Höchstdauer für den Ausreisegewahrsam von zehn auf bis zu 28 Tage verlängert werden und es soll möglich sein, Menschen länger in Abschiebehaft zu halten. Sind diese Schritte wirklich ein Gamechanger? 
Diese Maßnahmen sind Detailverbesserungen, die Abschiebungen vereinfachen sollen. Dementsprechend können sie durchaus wirken, allerdings nur bei ganz bestimmten Problemen. Ein Gamechanger wären sie nur, wenn sich durch sie die großen Hauptprobleme, an denen Abschiebungen bisher scheitern, lösen lassen. Das sehe ich aber eher nicht.

Was sind diese Hauptprobleme?
Die bereits genannten: fehlende Pässe, Herkunftsländer, die sich weigern, Menschen zurückzunehmen, und so weiter. Bei diesen Problemen hat weder eine CDU- noch eine Ampelregierung bisher grundlegende Verbesserungen erreicht, weil sich diese Herausforderungen kaum mit Gesetzesänderungen lösen lassen. Wenn die Betroffenen keine Pässe haben, kann kein Gesetzgeber der Welt diese Pässe herzaubern.

Bundeskanzler Olaf Scholz sagte kürzlich, man müsse im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben. Ist das also ein Versprechen, das er überhaupt nicht halten kann?
Die Aussage von Scholz möchte ich nicht bewerten. Die Maßnahmen im Gesetzentwurf sind sicherlich Schritte in Richtung mehr Abschiebungen. Die Bundesregierung kann sich außerdem darum kümmern, Kooperationen mit Herkunftsländern voranzubringen, damit diese Staaten abgelehnte Asylbewerber zurücknehmen …



… worum sich Scholz bei seiner Reise nach Westafrika ja auch bemüht hat.
Ein Großteil des Abschiebeprozesses findet aber in den Verwaltungen statt. Die Bundesländer spielen also bei der Umsetzung eine entscheidende Rolle. Sie kümmern sich um den Abschiebevollzug. Deshalb kann der Kanzler zwar Appelle an die Öffentlichkeit und an die Bundesländer richten, aber weder der Bund noch er können diesen sehr bedeutsamen Teil des Abschiebevollzugs direkt beschleunigen.

Hilft es, Anreize zu schaffen, damit abgelehnte Asylbewerber freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren?
Ein abgelehnter Asylbewerber, der keine Papiere hat und keine Angaben zu seiner Herkunft macht, ist kaum abzuschieben. Deshalb sind freiwillige Kooperationen notwendig. Finanzielle Anreize können helfen, damit Betroffene von sich aus in ihre Herkunftsländer zurückgehen. An einem großen Erfolg zweifle ich aber.

von Max Biederbeck, Daniel Goffart, Max Haerder, Christian Ramthun, Cordula Tutt

Warum?
Die Lebensbedingungen in Bezug auf einen guten Arbeitsmarkt, einen funktionierenden Rechtsstaat und Gewaltfreiheit sind in Deutschland im Vergleich zu vielen Staaten um ein Vielfaches besser. Die Menschen leben lieber in Deutschland prekär als in ihrem Herkunftsland. Man kann versuchen, Druck auszuüben, zum Beispiel durch Beschränkung der Arbeitsmöglichkeiten oder der Sozialleistungen. Das mag in manchen Fällen auch helfen. Aber ich sage es mal überspitzt: Unter die Rückkehrbedingungen in Afghanistan bekommen wir die Lebensverhältnisse in Deutschland nicht gedrückt. Und das kann aus rechtsstaatlicher Sicht auch definitiv nicht das Ziel sein.

Ist es denkbar, dass die geplanten Gesetzesänderungen von Gerichten einkassiert werden?
Bei der Durchsicht des Entwurfs, der ja auch noch diskutiert und überarbeitet wird, scheinen mir die Gesetzesänderungen die jeweiligen Rahmenvorgaben des europäischen Rechts einzuhalten. Wenn, dann dürfte es bei Einzelfällen Probleme geben.

Inwiefern?
Ein Beispiel: Wenn auf den Abschiebegewahrsam vorhersehbar eine Abschiebung folgt, dann würde ich vermuten, dass die rechtlich zulässigen 28 Tage auch im Einzelfall kein Problem sind. Vorausgesetzt, die Zeit wird genutzt, um die Abschiebung zu vollziehen. Wenn eine Person aber ohne Abschiebevollzug nach vier Wochen wieder entlassen werden muss, dann drängt sich Frage auf, ob er grundlos festgehalten wurde. Das kann gegebenenfalls Probleme machen.

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Reizt Deutschland den rechtlichen Rahmen bei den Maßnahmen zu schnelleren Abschiebungen also aus?
In den Bereichen, die jetzt angefasst werden, glaube ich, dass der Gesetzgeber einen Großteil des Spielraums im Rahmen des europäischen Rechts ausnutzt. Das heißt aber nicht, dass wir uns an die Grenze der Menschenwürde begeben. Dennoch: Ich sehe nicht, dass es auf Seiten des Bundesgesetzgebers noch größere und nicht gehobene Optimierungspotenziale gibt.

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