Atomausstieg Wer ist der Geisterfahrer?

Frankreich will stärker auf Atomkraftwerke setzen. Aktuell im Bau ist allerdings bislang nur ein Kraftwerk – der Erweiterungsmeiler in Flamanville in der Normandie. Quelle: REUTERS

In Deutschland werden am 15. April die letzten drei Atomkraftwerke abgeschaltet. Doch unsere Nachbarn investieren in neue Meiler. Ausweg oder Irrweg? Sicher ist: Seit dem Ende der russischen Energielieferungen hat ein Umdenken eingesetzt.

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In den grünen Ministerien laufen bereits die Vorbereitungen für den „D-Day“. Nach mehr als 40-jährigem Kampf gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie soll die endgültige Abschaltung der letzten verhassten Meiler am 15. April angemessen gefeiert werden – zumindest bei den Grünen. Fototermine sind gebucht, Presseerklärungen vorbereitet. Das Triumphale, das sich Anti-AKW-Veteranen wie Jürgen Trittin gewünscht hätten, soll jedoch einem sachlichen Auftritt weichen. Zu sehr steckt den Grünen noch die Verzögerung der AKW-Nutzung um weitere dreieinhalb Monate in den Knochen, die Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober letzten Jahres per Machtwort angeordnet hatte – nur einen Tag nach dem Ende des Grünen-Parteitags in Bonn.

Wirtschaftsminister Robert Habeck aber betonte am Osterwochenende nochmal mit Nachdruck: Am Ende selbst ist diesmal nicht zu rütteln. Die drei letzten Kraftwerke würden nach der Abschaltung am 15. April „früher oder später in den Rückbau gehen“, sagte der Grünen-Politiker. „Und ein Neubau von Atomkraftwerken hat sich immer als ökonomisches Fiasko dargestellt – ob in Frankreich, Großbritannien oder Finnland.“ Daran hätten die Betreiber auch gar kein Interesse.

Aufstieg statt Ausstieg

Während viele in Deutschland also jetzt den Ausstieg feiern, feilen unsere Nachbarn am Aufstieg der Atomkraft. Allen voran ausgerechnet Frankreich. Bis Mitte des kommenden Jahrzehnts sollen sechs neue Kernkraftwerke das bereits stattliche Produktionsvolumen der französischen Atomindustrie weiter erhöhen. Aktuell im Bau ist allerdings bislang nur ein Kraftwerk – der Erweiterungsmeiler in Flamanville in der Normandie.

Dass es in Frankreich immer wieder technische Probleme mit den bestehenden Anlagen gibt, hält weder die Regierung in Paris noch die Unternehmen von ihren Ausbauplänen ab. Auch die Bevölkerung hat die Nukleartechnik weitgehend akzeptiert; mehr als die Hälfte des Stroms in Frankreich stammt aus Kernkraftwerken. Demonstrationen, Blockaden oder gar regelrechte Feldzüge gegen die Technologie findet man westlich des Rheins kaum.

Osteuropa will mehr Atomkraft nutzen

Konkrete Pläne für mehrere Neubauten gibt es auch in den Niederlanden und in Schweden. Steigende Kapazitäten bei der Produktion von Atomstrom verzeichneten 2021 gegen den allgemeinen Trend außerdem Länder wie Rumänien, Ungarn, Tschechien, die Niederlande, Belgien, Finnland und Slowenien. Eine starke Pro-Atom-Allianz in der EU bilden vor allem die osteuropäischen Staaten. Bis zum Ukrainekrieg waren sie die größten Abnehmer von russischem Gas – jetzt brauchen sie dringend Ersatz. Außerdem entfällt in diesen Ländern noch ein sehr hoher Anteil der Stromerzeugung auf Kohle – in Tschechien sind es 40 Prozent, in Polen gar 70 Prozent. Einen CO-2-freien Ersatz für den Klimakiller Kohle will man in Osteuropa jedoch nicht nur aus Umweltschutzgründen aufbauen, sondern auch, weil die Kohleverbrennung wegen der anziehenden Preise für Emissionszertifikate spürbar teurer werden wird. Zwar gibt es hohe Investitionen in erneuerbare Energien, aber der Ausbau der Kernkraft bildet einen Schwerpunkt.

von Florian Güßgen, Daniel Goffart, Nele Antonia Höfler, Silke Wettach

Befremdlich mutet den Westeuropäern dabei jedoch an, dass Länder wie Ungarn nach wie vor auf russische Atomtechnik setzen. In Polen allerdings vertraut man beim Neubau des ersten AKW in der Nähe von Danzig nur auf US-Technik der Firma Westinghouse, ebenso wie in Rumänien. Dabei stellt Polen klare Bedingungen: Weder das Brennmaterial Uran noch die Brennstäbe selbst dürfen von Russland bezogen werden.

Grüner Wasserstoff mit Kernenergie?

Der Grund für die Renaissance der Kernkraft vor allem in Osteuropa liegt jedoch nicht nur im Krieg und dem damit verbundenen Ende der russischen Energielieferungen. Auch für die absehbar steil ansteigende Produktion von grünem Wasserstoff wird eine CO-2-freie Energieform gesucht. Für Frankreich und den Großteil der EU-Staaten ist Kernkraft eine klimaneutrale Technologie, die eine entscheidende Rolle bei der Herstellung von grünem Wasserstoff und damit für die Erreichung der Klimaziele spielen soll. Heftigen Streit gibt es dabei um die Frage der Förderung.

Während Deutschland, unterstützt von Spanien, das strikt ablehnt, beharren Frankreich und der Großteil der EU-Mitglieder auf der gegenteiligen Sichtweise. Auch Italien hat sich unter der neuen Regierung in Rom wieder mehr der Atomkraft zubewegt; Ministerpräsidentin Giorgia Meloni will eine neue Generation von Kernkraftwerken bauen.

EU streitet um Atomförderung

Noch neigt die EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen der Sichtweise der Bundesregierung zu. Die Atomenergie könne zwar „eine Rolle bei unseren Bemühungen zur Dekarbonisierung spielen“, sagte von der Leyen nach der letzten Energieministerkonferenz Ende März in Brüssel. Bei der finanziellen Förderung grüner Industrien steht die Kernkraft aber nach Meinung der Kommission „strategisch“ nicht auf einer Stufe mit der Energie aus Wind und Sonne.

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Doch gegen den hartnäckigen Protest von Frankreich und einer Reihe von EU-Staaten, die Atomkraft künftig eher noch ausbauen als herunterfahren wollen, ist der Entwurf für das europäische Fördergesetz zur Förderung klimaneutraler Technologien nicht akzeptabel. Insider aus der Kommission gehen deshalb davon aus, dass der Entwurf noch „stark verändert wird“, denn „die Sichtweise der Deutschen ist in der EU nicht mehrheitsfähig“.

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