Aus für Nord Stream 2 Unsere Energieversorgung muss schneller umgebaut werden

Die Gaspipeline Nord Stream 2 steht vorerst vor dem Aus. Quelle: REUTERS

Die Bundesregierung hat Nord Stream 2 auf Eis gelegt. Doch das kann nur ein erster Schritt sein. Deutschland muss seine Energielieferungen überdenken und sich zügig unabhängiger machen. Ein Kommentar.

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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat die umstrittene Erdgaspipeline Nord Stream 2 gestoppt. Das Genehmigungsverfahren sei angesichts des russischen Vorgehens in der Ukraine ausgesetzt worden und müsse unter anderen Vorzeichen neu aufgerollt werden, sagte Scholz. Putin verstoße massiv gegen Völkerrecht.

Die umstrittene Erdgaspipeline Nord Stream 2 wird also vorerst nicht in Betrieb gehen. Der Schritt ist richtig, zieht aber andere nach sich, die für Deutschland unangenehme wie teils teure Entscheidungen mit sich bringen.

Nach diesem Stopp, der die Energiesicherheit in Deutschland betrifft, muss die Bundesregierung zügig einen Plan ausarbeiten, insgesamt von russischen Energielieferungen unabhängiger zu werden. Die Abhängigkeit ist groß – auch bereits ohne die Pipeline Nord Stream 2 von Russland unter der Ostsee bis Mecklenburg-Vorpommern, die noch im Genehmigungsverfahren war. Dieses Ausgeliefertsein sollte schnell vermindert werden, auch wenn nicht im gleichen Tempo fossile Brennstoffe wie aus Russland durch erneuerbare Quellen ersetzt werden können.

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34 Prozent der Erdölimporte Deutschlands stammen aus dem Russland, das sich zunehmend weniger um Regeln und Völkerrecht im Verhältnis mit anderen Staaten schert. Gut 50 Prozent des deutschen Erdgas-Verbrauchs stammen aus russischen Lieferungen. Außerdem stammen 45 Prozent der Steinkohle, die in Kraftwerken und die in der Stahlproduktion hier verfeuert wird, von dort. Steinkohle-Kraftwerke decken noch knapp zehn Prozent des deutschen Strombedarfs.
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte die Unabhängigkeit der Separatistenregionen Donezk und Luhansk in der Ostukraine anerkannt. Der Kremlchef ordnete zudem an, russische Soldaten in die Ostukraine zu entsenden. Er plant damit zum zweiten Mal nach 2014 einen Einmarsch ins Nachbarland. Nun also wird aus dem schwelenden Konflikt und der ständigen Regelüberschreitung Putins eine offene Krise, womöglich ein offener Krieg mit russischen Soldaten in der Ukraine.

von Sonja Álvarez, Max Biederbeck, Daniel Goffart, Max Haerder, Julian Heißler, Volker ter Haseborg, Silke Wettach

Von einem solch unberechenbaren, regelbrechenden Regime sollte sich Deutschland wirtschaftlich unabhängiger machen. Das bedeutet allerdings, dass erstens neue Lieferanten gefunden werden müssen, dass zweitens Energie kurzfristig wohl noch teurer wird und dass drittens der Umstieg auf erneuerbare Energiequellen deutlich schneller geschehen muss. Außerdem sollte die Regierung einen vierten Bereich angehen, der lange länger ignoriert wurde: Energie muss effizienter eingesetzt, muss gespart werden. Die nicht benötigte Kilowattstunde ist die günstigste, umweltschonendste und konfliktärmste.

Die neuen Lieferanten: Im grün geführten Bundeswirtschaftsministerium wird an Plänen gearbeitet, dass Hafenterminals so ausgebaut werden, dass dort bald Schiffe mit Flüssiggas anlanden können. Das macht unabhängiger von Pipelines, die oft in Russland beginnen. Das bedeutet aber, entweder Frackinggas aus Nordamerika anlanden zu lassen (mit teils schlimmen Umweltschäden dort) oder Gas aus Golfstaaten wie Katar, die auch nicht als friedlich-demokratische Handelspartner gelten. Zudem ist diese Art von verflüssigtem Gas teurer als das Erdgas aus den transkontinentalen Rohren. Die Investitionen mit staatlicher Unterstützung in Hafenterminals und Transportwege könnten aber gerechtfertigt sein, wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) andeutete, weil später Wasserstoff transportiert werden könnte.

Wenn nun von Russland weniger erschwingliches Gas kommt, wenn womöglich auch von Russland Energie als Druckmittel eingesetzt wird, dann macht das den Verbrauch in Deutschland nach den starken Preisanstiegen noch teurer. Deshalb sollte die Regierung schnell mit einem stimmigen Sozialausgleich um die Ecke kommen. Ein Energiegeld pro Kopf und Jahr wäre die schlüssige Antwort, dann würden vor allem Geringverdiener und Familien entlastet.

Unabhängigkeit von ausländischer Energie wird es für Deutschland auch in der postfossilen Ära kaum geben. Wenn mehr Windräder an Land und zur See gebaut werden, wenn verfügbare Flächen und bisher noch kaum beachtete Ecken mit Solarmodulen bestückt sind, wird es wohl immer noch nicht reichen für die Selbstversorgung. Das muss auch nicht unbedingt sein.

Einseitige Abhängigkeit macht jedoch erpressbar. Deshalb muss im so genannten Osterpaket des Wirtschafts- wie Klimaministers Habeck in den Gesetzen viel Konkretes stecken, was den Ausbau der Erneuerbaren in Deutschland schnell vorantreibt. Das Paket muss Naturschutz einbeziehen, aber nicht als Totschlagargument nutzen, muss die Betroffene auch zu Nutznießern der Anlagen machen. Die Landesregierungen, die hier bremsen, müssten zudem langsam merken, dass nicht nur zunehmend preiswerter Strom aus Erneuerbaren ein Standortvorteil für die örtliche Industrie ist, sondern eine dezentrale Energieversorgung auch Vorteile hat gegenüber ausländischen Regierungen, die Energie als Druckmittel einsetzen.

Mehr zum Thema: Noch am Dienstag wird ein erstes Maßnahmenpaket gegen Russland verabschiedet. Mit dem Zertifizierungsstopp von Nord Stream 2 sendet Berlin ein unerwartet klares Zeichen.

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