Kurier statt Kellner Viele haben die Chance auf einen Neuanfang ergriffen – und kommen nicht zurück

Viele Beschäftigte aus der Gastronomie haben die Zeit der Corona-Schließungen genutzt und sind in andere Berufe gewechselt. Quelle: imago images

Die Coronakrise hat eine große Arbeiterwanderung ausgelöst: Viele haben neue Jobs gefunden und wollen nicht zurück. Hier berichten drei Branchenwechsler, warum sie gegangen sind – und ein Gastrounternehmer, wie er seine Leute in Testzentren untergebracht hat.

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„Die Gastronomie wird in Zukunft Riesenprobleme haben“, sagt Christian Stiller – und wenn das stimmt, liegt das auch an Menschen wie ihm selbst. Stiller ist Koch, bis zur Coronapandemie arbeitete er als Küchenchef für Unilever am Standort Thayngen in der Schweiz, war zuständig, alle Mitarbeiter in dem Land zu verpflegen. Vorbei, die Branche hat ihn verloren: Nachdem der Konzern ihm aufgrund der Krise kündigte, orientierte sich der 37-Jährige radikal um – und macht nun eine Ausbildung zum Lokführer bei der Bahn.

Damit ist Stiller nicht allein: Er hat Kellner, Piloten, Brauer und auch einen Banker unter seinen – ja, meist sind es Männer – Kollegen. Eine Flugbegleiterin ist ebenfalls dabei. Sie alle haben sich so flexibel gezeigt wie auch der deutsche Arbeitsmarkt. Denn die Coronapandemie hat zwar den zweitstärksten Wirtschaftseinbruch seit Gründung der Bundesrepublik ausgelöst. Zu Massenentlassungen aber kam es nicht. Einerseits, weil die Bundesregierung die Kurzarbeit stark ausgeweitet hat. Und andererseits: Weil die Menschen sich eben umorientierten. 

Bestimmte Branchen spüren allerdings dennoch starken Druck. Hotels, Restaurants, Boutiquen und Sportgeschäfte waren von den Lockdowns besonders hart getroffen, sie wollen sich nun wieder erholen. Aber Köchinnen und Verkäufer werden knapp. Die Beschäftigten haben die Zeit der Schließungen im stationären Bereich genutzt und sind häufiger in andere Berufe gewechselt. Und nun kommen viele Mitarbeiter nicht zurück.

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Christian Stiller arbeitete bis zur Coronapandemie als Küchenchef – dann schulte er auf Lokführer um. Quelle: Privat

Wie Christian Stiller. Er kann die Kollegen verstehen, die es machen wie er. In den vergangenen 15 Jahren sei das Arbeitsumfeld in der Gastronomie nicht besser geworden, findet er. Geringe Bezahlung, keine Betriebsrente, Teildienste, bei denen man am Nachmittag gezwungenermaßen drei Stunden Pause machen muss – da sei die Coronapandemie nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Viele haben die Chance ergriffen, weil sie am Abgrund standen“, sagt Stiller, „und haben einen neuen Job gefunden, der auch Spaß macht – oder sogar mehr.“

Geregelte Arbeitszeiten und mehr Zeit für die Familie

Auch wenn sein Wechsel von außen zunächst wie ein beruflicher Abstieg aussehen mag, Stiller sieht darin nur Vorteile. Er erfüllt sich einen Kindheitstraum: „Es ist ein tolles Gefühl, so große Maschinen zu bewegen“, sagt er. Er fährt von Singen aus, meist Fernzüge Richtung Karlsruhe und Stuttgart. „Einen Sonnenaufgang über dem Schwarzwald sollte jeder mal gesehen haben.“

Stiller hat geregelte Arbeitszeiten, mehr Zeit für seine Familie, vor allem aber nimmt er seine Verantwortung anders wahr. Habe er früher unruhige Nächte gehabt, weil er weit vorausplanen musste, Personaleinsatz, Einkäufe, Buchhaltung, falle die Verantwortung jetzt von ihm ab, wenn er von der Maschine absteige. Den Eisenbahnerjargon hat Stiller schon übernommen.

Stefan Dries wechselte durch die Pandemie die Branche: Der gelernte Kaufmann im Einzelhandel arbeitet nun bei der Post. Quelle: Privat

Und so ein Umstieg muss auch nicht bedeuten, dass es nicht wieder eine Stufe nach oben gehen könnte. Wie bei Stefan Dries. Auch Dries ist ein Branchenwechsler: Als gelernter Kaufmann im Einzelhandel hatte er bis zur Pandemie mehr als zehn Jahre lang junge Auszubildende mit psychischen Erkrankungen betreut und dabei unterstützt, Bürotätigkeiten zu meistern.

Für einen solchen Job sei persönlicher Kontakt unerlässlich, findet er. Als er seine Aufgabe nur noch über Telefon und Video erledigen sollte, kündigte er. Der Zusteller, der bei ihm Pakete ausliefere, habe zu ihm gesagt: „Komm‘ doch zu DHL.“ Und so fing Dries im April 2020 ebenfalls als Zusteller bei der Post an – mit „richtig Lust auf den Perspektivwechsel“, wie er sagt.

„Covid-Klarheit“ führt zu Branchenwechseln

Auch wenn die Studienlage für Deutschland bislang keinen „Big Quit“ am Arbeitsmarkt wie in den USA belegt, wo Millionen Menschen während der Coronapandemie ihre Jobs hinter sich gelassen haben: Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das entdeckt, was die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) „Covid-Klarheit“ nennt. Sie sind sich bewusst geworden, dass ihre Arbeit nicht ihre Erwartungen erfüllt – und haben sich eine andere Stelle gesucht.

Stefan Dries, 39, kehrte schnell in seine Rolle als Ausbilder zurück, nach drei Monaten stieg er zum Einweiser für neue Zusteller auf. Ein Jahr, nachdem er den Job gewechselt hatte, übernahm er die stellvertretende Leitung, mittlerweile führt er die Zustellbasis in Tempelhof mit 120 Beschäftigten.



Mit der Kamera führt Dries durch seinen Arbeitsplatz, sein Büro mit der Regenbogenflagge in der Ecke, der Pausenraum, in dem sich die Zusteller vor und nach ihrer Tour aufhalten können, und in eine Halle mit roten Säulen, wo die Transporter beladen werden. Das Gebäude sei mehr als 150 Jahre alt und daher baulich nicht auf alles eingestellt, sagt er. Deshalb hat Dries zum Beispiel gerade angeregt, für die Kolleginnen auch die Damenumkleide mit einer Dusche auszustatten.

Dries sagt selbst, er sei überrascht, dass es mit seiner Karriere im neuen Job so schnell vorangegangen ist: „Ich konnte ganz schnell zeigen, was ich kann.“ Auch der ehemalige Küchenchef Christian Stiller hat sich über die Möglichkeiten informiert, sich weiterzuentwickeln, bevor er zur Bahn wechselte. Momentan, sagt er, verspürt er dazu aber keinen Zwang: „Der Schritt zurück fühlt sich gut an.“ Auch seine Familie sei großer Fan seines Wechsels – endlich kocht Stiller wieder zu Hause.

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