Die Befürchtungen haben sich bestätigt, der Überbietungswettbewerb hat begonnen. Jetzt fordert auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) einen Mindestlohn von 15 Euro. „Ich bin klar dafür, den Mindestlohn erst auf 14 Euro, dann im nächsten Schritt auf 15 Euro anzuheben“, sagte er im Interview mit dem „Stern“.
Schon vergangene Woche hatte sich auch der Wirtschaftswissenschaftler Achim Truger, der als Wirtschaftsweiser die Bundesregierung berät, hinter die Forderung nach einem höheren Mindestlohn gestellt: 2025 müsste die Lohnuntergrenze auf mindestens 14 Euro steigen, sagte Truger, um nach der hohen Inflation Mindestschutz für die Beschäftigten zu geben.
Nicht nur der Kanzler wird es ihm danken. 14 Euro, 15 Euro, wer bietet mehr? Die Gewerkschaft Verdi und die Grünen haben sich für eine Lohnuntergrenze von 15 Euro pro Stunde ab dem Jahr 2026 ausgesprochen. Sie begründen das mit einer EU-Richtlinie, der zufolge der Mindestlohn in Deutschland bei 60 Prozent des Medianeinkommens liegen sollte, also bei aktuell etwas mehr als 14 Euro. Die Linke fordert ohnehin 15 Euro pro Stunde.
Das Problem: Es ist nicht Sache der Politik, über die Höhe der Lohnuntergrenze zu entscheiden. 2015 führte die große Koalition einen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde ein – und gab gleichzeitig ein Versprechen ab: Die Entscheidung über weitere Erhöhungen der Lohnuntergrenze sollte in einer unabhängigen Kommission mit sechs stimmberechtigten Mitgliedern aus Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften fallen. Man wolle, sagte die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sogar, keinen politisch festgesetzten Mindestlohn. „Das“, erklärte sie, „öffnet Willkür und Populismus Tür und Tor.“
Genau so kommt es jetzt. Vor zwei Jahren brach die Bundesregierung, dann die Ampelkoalition, schon einmal dieses Versprechen. Als einmaliger politischer Eingriff deklariert setzte sie den Mindestlohn auf zwölf Euro herauf. Derzeit liegt er bei 12,41 Euro pro Stunde. Bereits die Erhöhung auf zwölf Euro entsprach einer Steigerung um etwa 15 Prozent, jenseits jeglicher Tarifentwicklung, setzte eine Reihe tariflicher Branchenmindestlöhne außer Kraft – und entzog die Entscheidung dem Gremium, dem es ja angeblich alleine oblag, zu prüfen, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist. So hatte Nahles die Kommission dereinst eingeführt.
Die Behauptung 2022: Die Mindestlohnkommission werde ihre Arbeit 2023 nach bekanntem Muster fortsetzen, dann eben ausgehend von der Basis zwölf Euro. Nun zeigt sich: Deren Arbeit wird auch künftig nicht ohne Eingriffe aus der Politik möglich sein. Denn die Kommission hat entschieden, die Lohnuntergrenze soll 2025 auch steigen, und zwar auf 12,82 Euro. Weil das manchen zu wenig ist und bei dem Kompromiss die Gewerkschaften überstimmt wurden, will SPD-Chefin Saskia Esken nun die Arbeitsweise des Gremiums ändern.
Auch Scholz kritisiert die Kommission: „Die Arbeitgeber haben nur auf einer Mini-Anpassung beharrt.“
So gerät das bestehende System zur Farce. Falls vor der nächsten Bundestagswahl „wieder ein höherer Mindestlohn versprochen wird, macht es keinen Sinn, eine Kommission zu beschäftigen“, sagte vor gut zwei Jahren der Ökonom und ehemalige Sachverständige Lars Feld, der auf Vorschlag der Arbeitgeber die deutsche Mindestlohnkommission berät. „Dann trägt die Politik alleine die Verantwortung.“ Dem lässt sich nichts hinzufügen.
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