WirtschaftsWoche: Herr Schammann, in Deutschland ist eine Debatte darüber entbrannt, wie viele Geflüchtete das Land noch aufnehmen kann. Über eine Wende in der Migrationspolitik berät deshalb der Kanzler heute auch mit der Opposition. Wie dramatisch ist die Situation?
Hannes Schammann: Soweit wir das mitbekommen, ist die Situation in vielen Kommunen angespannt. Klar ist aber auch: Einen umfassenden Überblick über die Lage gibt es nicht. Vieles, was wir hören und lesen, basiert auf anekdotischer Evidenz. Was wir allerdings wissen: Es kommt auf den konkreten Bereich an. Die Ausländerbehörden sind wohl nahezu überall an der Belastungsgrenze. Bei der Unterbringung muss man dagegen sagen: Es gibt weiterhin Kommunen, die sogar mehr Geflüchtete aufnehmen können als sie eigentlich müssten. Die Lage ist also heterogener als viele glauben.
Gibt es Unterschiede zur Fluchtbewegung in den Jahren 2015 und 2016?
Damals gab es eine hauptsächliche Herkunftsroute, heute sehen wir eine diffusere Situation an der gesamten EU-Außengrenze. Das liegt daran, dass es im Moment nicht den einen speziellen Konflikt gibt, wegen dem Menschen nach Deutschland flüchten, die Welt wird insgesamt instabiler. Daher steigt die Zahl der Geflüchteten weltweit.
Zur Person
Hannes Schammann ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik an der Universität Hildesheim und leitet dort die Migration Policy Research Group.
Ist es überhaupt möglich, eine Lösung zu finden, durch die sich die Lage wieder entspannt?
Das Thema ist sehr komplex – und damit auch die Lösung. In der Debatte gilt vielen die generelle Reduktion von Migration als der Königsweg. Das wird aber nicht funktionieren. Man kann versuchen die irreguläre Fluchtmigration einzudämmen, muss aber dafür geregelte, reguläre Kanäle öffnen, also zum Beispiel für Arbeitsmigration. Man braucht ein Ventil für den vorhandenen Migrationsdruck und sorgt nebenbei für mehr Akzeptanz beim Thema Migration. Will Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen, dann muss es aber weiterhin eine Möglichkeit geben, damit Menschen aus Kriegsgebieten hier Schutz finden.
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Gerade gibt es fast täglich neue Vorschläge, wie die Migration begrenzt werden soll. Beispielsweise den Geflüchteten Sachleistungen statt Geld zu geben, um falsche Anreize zu verhindern. Wie bewerten Sie diese Debatte?
Die Idee mit den Sachleistungen ist nicht neu – genauso wie viele andere, die im Moment diskutiert werden. Ob das wirklich hilft, ist aber völlig unklar. Dafür gibt es keine Evidenz. Das finde ich kritisch. Es werden in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit Gesetze zur Migration beschlossen, ohne zu überprüfen, ob die überhaupt den gewünschten Effekt haben. Außerdem macht man es sich zu einfach, bei der Migration in eindeutigen Pull- und Push-Faktoren zu denken. Diese Theorie ist veraltet.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier befürwortet, schon an den EU-Außengrenzen die Asylgesuche von Menschen zu überprüfen, die keine oder kaum eine Chance auf Asyl haben. Eine sinnvolle Idee?
Über die Hälfte der momentan nach Deutschland kommenden Geflüchteten haben eine gute Bleibeperspektive. Die würden also gar nicht aufgehalten. Und selbst wenn Menschen an den EU-Außengrenzen gestoppt werden, ist unklar, wie das genau funktionieren soll und was passiert, wenn ein Auffanglager irgendwann überfüllt ist. Es ist legitim, in eine solche Richtung zu denken, aber bis zu Ende gedacht ist das alles nicht. Nur weil die AfD suggerierte, es gebe einfache Lösungen, sollten andere Parteien nicht versuchen, dieses Märchen für sich zu kopieren. Daran werden sie nur scheitern.
Müsste man also eher für Komplexität werben?
Genau. Wer eine einfache Lösung für das Migrationsproblem sucht, der findet sie nur in einem anderen politischen System. Eine liberale Demokratie kann seine Grenzen nicht einfach komplett schließen.
Warum geht die Debatte aber in eine solche Richtung?
Wie schon vor dem Asylkompromiss 1992/3 ist der Druck auf die Politik groß. Anders als damals geht es inzwischen aber um mehr. Die Kommunal- und Bundespolitiker machen sich ernsthaft Sorgen um die Demokratie.
Erleben wir eine Zeitenwende in der Migrationspolitik und ein Ende der Willkommenskultur?
Zeitenwende ist ein großes Wort. Aber in der Tat, der Schutzgedanke rückt immer mehr in den Hintergrund. Vor ein paar Jahren wurden Debatten um Obergrenzen schnell wieder abgewürgt, weil man einfach darauf verwies, dass man dadurch gegen internationale Vereinbarungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen würde. Das ist heute offenbar kein Argument mehr. Diese Bereitschaft internationale Ordnungen infrage zu stellen, die gab es 2015 noch nicht.
Wozu führt das?
Der aktuelle Kurs, nicht nur von Deutschland, führt in eine unsichere Welt, die von Misstrauen und bilateralen Deals geprägt ist. Hierzulande bewegen wir uns in eine Richtung, die Flüchtlingspolitik immer stärker aus einer Nützlichkeitsperspektive denkt, das heißt, es geht darum, welcher Geflüchtete eine sinnvolle und gute Arbeitskraft für uns sein könnte. Gleichzeitig passt das nicht recht zum Ton der aktuellen Diskussion. Die nämlich gibt nicht nur Geflüchteten das Gefühl, nicht willkommen zu sein, sondern auch den ausländischen Fachkräften.
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