Russlands Angriffskrieg und die Folgen Der eigentliche Beginn von Scholz' Kanzlerschaft

Entscheidender Moment: Bundeskanzler Olaf Scholz hält am Sonntag zu Beginn der Sondersitzung des Bundestags zum Krieg in der Ukraine eine Regierungserklärung. Quelle: dpa

Wenn Aufrüstung in Höhe von hundert Milliarden Euro nur ein Anfang ist: Deutschland und Europa stehen im Angesicht der russischen Aggression vor nicht weniger als einer Umdefinition ihrer Politik.

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Vom deutschen Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt ein berühmter und zugleich verstörender Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Seit dem vergangenen Donnerstag muss dem Letzten klar geworden sein: Auch das Völkerrecht und die Sicherheit und Freiheit ganz Europas stehen auf Fundamenten, die sie nicht selbst sichern können.

Wir hatten verlernt, das Verstörende dieses Gedankens an uns heranzulassen. Jedenfalls nie so nah, dass es handlungsleitend geworden wäre. Was, wenn Kategorien wie Vernunft und Mäßigung, Anstand, Moral und Friedfertigkeit von Anderen ignoriert werden? Und was bedeutet es für diejenigen, die diese Werte trotz allem beschützen und behalten wollen?

Vor gerade einmal zehn Tagen hat Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine bemerkenswert klare, strategisch aufgeladene Rede gehalten und vom „geopolitischen Gezeitenwechsel“ gesprochen. Spätestens seit Wladimir Putin der Ukraine den Krieg erklärt und die atomare Abschreckung bemüht hat, kann niemand mehr die Augen davor verschließen, welch Kältesturz mit diesem Wechsel einhergeht.

Die Regierungserklärung, die der Bundeskanzler am Sonntag im Bundestag abgegeben hat, war nun die dunkle Schwester jener Münchner Rede – konkreter, viel schärfer, kompromissloser, in einem Wort: historisch. Sie markiert den eigentlichen Beginn seiner Kanzlerschaft. Unter dem Eindruck und dem Druck der Ukraineinvasion suspendiert die Regierung nicht nur jahrzehntealte Grundsätze ihre Waffenexportpolitik, sie mobilisiert auch eine in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Summe für die Rüstung der Bundeswehr. (So beispiellos hoch ist diese Summe – 100 Milliarden Euro –, dass sie paradoxerweise schon wieder hilflos wirkt.)

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert das allerletzte Ende jeder Illusion; er beerdigt jeden Rest Hoffnung auf eine Außen- und Sicherheitspolitik, in der Idealismus und Pragmatismus und Ausgleich das Bestimmende sind. Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, aus deren Vernunftsgeist einst die Charta der Vereinten Nationen entstand, hat erstmal ausgedient. 

Der Preis, den Deutschland und Europa für diesen kalten Frieden der Abschreckung und Gegenmacht aufzubringen haben, ist immens hoch. Finanziell und militärisch, politisch und gesellschaftlich. Ihn in jeglicher Hinsicht auch nur grob zu überschlagen – aus heutiger Sicht ist das kaum möglich. Was uns eine wehrhafte Demokratie zu bedeuten und zu kosten hat, muss von nun an neu verhandelt werden. In einem Tempo, das den Atem stocken lässt. Das Nachdenken über die vielen  Folgen hat gerade erst begonnen.

Fangen wir bei der Bundesrepublik an. Der Bundeswirtschaftsminister hat schon in den vergangenen Tagen zu Protokoll gegeben, „Wandel durch Handel“ für erledigt zu betrachten. Was heißt diese tiefe Ernüchterung über die Kraft wirtschaftlicher Beziehungen künftig allein nur für das Verhältnis zu China – und den darauf aufgebauten Wohlstand? Die verteidigungspolitische Wende dürfte die Schuldenbremse bis auf Weiteres obsolet werden lassen. Auch die deutsche Energiepolitik könnte in einer Mischung aus Beschleunigung und Rollback (Flüssiggas, mehr Kohle, gar eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke?) ihr Antlitz komplett verändern.



In Europa wiederum könnte nun der Moment gekommen sein, an dem der äußere Druck aus dem politischen Kohlenstaub von 27 Regierungen doch noch einen Rohdiamanten der Macht formt. Könnte. Erschütterung ist das eine, Plan und Wille, zu handeln, etwas ganz anderes. Ja, den Weg technologischer Souveränität geht die EU bereits, mit den bekannten Nebeneffekten einer zentralen industriepolitischen Steuerung und Subventionierung. Konsolidierung und Haushaltsdisziplin dürften im Angesicht der Bedrohung vorerst unbedeutend sein. Die Außen- und Sicherheitspolitik stehen entsprechend vor vielleicht weiteren grundstürzenden Umwälzungen. Gewissheiten fallen derzeit im Tagestakt.

Ob man will oder nicht: Nicht Kant, sondern Thomas Hobbes‘ „Leviathan“, einst gedacht und geschrieben aus der Perspektive eines blutigen Bürgerkrieges, ist der Text dieser dunklen Stunden. Das Wölfische der internationalen Politik zeigt seine Reißzähne. Seine Mutter habe Zwillinge geboren, soll der Engländer Hobbes einst gesagt haben: ihn – und die Furcht.

Mehr zum Thema: Olaf Scholz hat bei der Münchner Sicherheitskonferenz am Samstag eine Rede gehalten, die nur vordergründig der Russlandkrise galt. Vielmehr ging es um Europas wohl letzte Chance, eine „Macht unter Mächten“ zu sein – und zu bleiben.

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