Sozialstaat „Der Staat kann kein Supermarkt sein, der allen alles zum Dauer-Niedrig-Preis anbietet“

Der Bund hat etwa fünf Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um die Qualität der Kitas zu verbessern. Quelle: dpa Picture-Alliance

Die Regierung muss bei den Sozialausgaben Prioritäten setzen, fordert Ex-Caritas-Chef Georg Cremer. Warum die Rente mit 63 dafür kontraproduktiv war – und die Vorschläge der CDU nur in Oppositionszeiten funktionieren.

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WirtschaftsWoche: Herr Cremer, FDP-Chef Christian Lindner hat gerade dazu aufgerufen, den Sozialstaat auf die Prioritäten zu fokussieren, statt immer mehr von ihm zu erwarten. Hat der Finanzminister recht?
Georg Cremer: Jedenfalls ist eine Debatte über Prioritäten unvermeidlich. Erst wenn man sich auf sie einlässt und dann auch sagt, was man konkret verändern will, kann der politische Streit produktiv werden. Wir wissen seit Langem, dass die demografische Entwicklung sich negativ auf die deutschen Sicherungssysteme auswirkt. Zudem bedeuten Ukrainekrieg und Klimawandel riesige Herausforderungen.

Moment: Sie waren lange Generalsekretär der Caritas. Wohlfahrtsverbände sind nicht dafür bekannt, den Sozialstaat zusammenstreichen zu wollen.
Ich will ihn ja auch nicht zusammenstreichen. Aber soziale und andere Belange müssen in einer ausgewogenen Balance zueinanderstehen. Ich weiß, im sozialen Sektor herrscht eine Grundhaltung, die „das Soziale“ gegen „die Wirtschaft“ in Stellung bringt. Aber ohne eine solide wirtschaftliche Grundlage gibt es keinen tragfähigen Sozialstaat. Deshalb müssen wir uns in gleicher Weise wie um den Sozialstaat darum kümmern, dass genügend Wertschöpfung entsteht und das Bildungssystem ausreichend Fachkräfte hervorbringt.

Ganz anders als Christian Lindner klingt dagegen der Kanzler. Olaf Scholz (SPD) betont nimmermüde: Der Staat dürfe die Menschen gerade in Zeiten von Krieg und Krise nicht verunsichern, müsse ihnen das Gefühl geben, für sie da zu sein. Sozial- und Verteidigungsausgaben dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, lautet sein Mantra.
Die aktuelle Welt- und Wirtschaftslage verunsichert Menschen. Aber es ist dennoch falsch, mit dem Bild des Ausspielens die Diskussion über Prioritäten abzuwehren. Die Ampel hatte sich vorgenommen, Investitionsmittel gegen den Klimawandel einzusetzen. Nun muss sie die Bundeswehr ertüchtigen, um die europäische Friedensordnung zu verteidigen. Bei allem, was moderate Mehreinnahmen generieren könnte, ist sie politisch blockiert. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, den Nachtragshaushalt für nichtig zu erklären, bringt die Regierung in eine verdammt harte Priorisierungssituation.

Zur Person

Warum ist die Frage so heikel?
Die Politik handelt unter extrem widersprüchlichen Erwartungen der Bürger. Die breite Mitte der Gesellschaft glaubt, dass sie zu viele Steuern und Abgaben zahlt – aber auch, dass sie zu wenig staatliche Leistungen bekommt. Der Staat kann aber kein Supermarkt sein, der allen alles zum Dauer-Niedrig-Preis anbietet.

Einerseits traut man dem Staat nichts zu – andererseits soll er sich in Krisen aber bitte so verhalten, dass man davon nichts mitbekommt?
Nehmen Sie den Doppel-Wumms: Nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, stellte der Kanzler 200 Milliarden Euro ins Fenster, um Energie bezahlbar zu halten. Und in einer Umfrage antworteten die Leute dennoch, der Staat tue zu wenig, um sie vor steigenden Energiepreisen zu schützen – übrigens auch Leute mit überdurchschnittlichem Einkommen. Das ist paradox. Und nur ein Beispiel von vielen, dass wir, wenn wir in der sozialpolitischen Debatte die Priorisierungsfrage nicht diskutieren, Gefahr laufen, vorrangig innerhalb der Mitte umzuverteilen.

Wo passiert das noch?
Zum Beispiel beim Gute-Kita-Gesetz. Der Bund hat etwa fünf Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um die Qualität der Kitas zu verbessern. Ein Teil der Bundesländer hat das Geld aber vorrangig bis ausschließlich eingesetzt, um den Elternbeitrag abzusenken oder ganz abzuschaffen. Das entlastet Mittelschichtseltern – während Kinder aus prekären Milieus von mehr Personal und besserer Betreuung profitiert hätten. Um Wähler in der Mitte der Gesellschaft zu gewinnen, mag das eine sinnvolle Strategie sein. Um langfristig Armut zu verhindern, nicht.

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Dann lassen Sie uns konkret werden. Wo lässt sich am Sozialstaat sparen?
Es ist schon viel gewonnen, wenn die Politik vermeidbare Kostenanstiege unterlässt. Die Rente mit 63 war kontraproduktiv. Sie wird überwiegend von Menschen genutzt, die gut qualifiziert sind und überdurchschnittliche Renten beziehen – nicht nur vom rückenkranken Dachdecker, für den sie angeblich gedacht war. Wenn die Lebenserwartung weiterhin steigt, wäre es auch eine gute Lösung, einen Teil der längeren Lebenszeit weiterzuarbeiten.

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Sie plädieren für eine höhere Regelaltersgrenze?
Wenn die verbunden ist mit der sozialen Absicherung von Menschen, die gesundheitlich nicht länger arbeiten können, ja, dann könnte es mittelfristig auch etwas mehr sein als 67 Jahre. Echte Umverteilung wäre auch, die Rentenanwartschaften von Menschen anzuheben, die lebenslang in Vollzeit im Niedriglohnsektor arbeiten. Das haben übrigens auch der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums und der Sachverständigenrat in die Diskussion gebracht.

Auch die CDU hat den Sozialstaat als Thema entdeckt. Sie will das Bürgergeld abschaffen und hebt 100-Prozent-Sanktionen hervor. Ist das die richtige Priorität?
Vor allem enthält ihr neues Grundsatzprogramm erhebliche Widersprüche. Die CDU verspricht vielfältige weitere Leistungen: Sie will die Kommunen finanziell besser ausstatten, den sozialen Wohnungsbau solide fördern, Alleinerziehende und kinderreiche Familien besser unterstützen und jedem neu geborenen Kind ein Startkapital zur Vermögensbildung gewähren. Alles wünschenswerte Anliegen – nur verspricht sie gleichzeitig, die Menschen zu entlasten und das Ganze mit einer wundersamen Effizienzoffensive bisher unbekannten Ausmaßes zu finanzieren, durch die alles unbürokratischer und flexibler werden soll.

Sie glauben nicht, dass das gelingen kann?
Ein solches Programm funktioniert in Oppositionszeiten. Und es birgt die Gefahr, dass Menschen nach einer Wahl sagen, die bekommen nicht gebacken, was sie versprochen haben. Das ist gefährlich in Zeiten von wachsendem Rechtspopulismus.

Die Frage ist allerdings berechtigt: Stimmen die Prioritäten beim Bürgergeld?
Seit der Bürgergeldreform sind die Jobcenter flexibler, eine Aus- und Weiterbildung zu fördern, um die Chancen auf eine langfristige Arbeitsaufnahme zu erhöhen. Erst einmal Vertrauen in die Mitwirkungsbereitschaft der Leistungsberechtigten zu setzen, finde ich auch richtig. Was das Bürgergeld nicht gelöst hat, ist, die unterschiedlichen Leistungen aufeinander abzustimmen, die mit zunehmendem Einkommen abgeschmolzen werden…



…es gibt absurde Rechenbeispiele, die zeigen: Wer Unterstützung erhält und Arbeit aufnimmt oder mehr arbeitet, hat oft kaum mehr oder sogar weniger Geld zur Verfügung als vorher.
Weniger hat er nicht oder allenfalls in extremen Ausnahmefällen. Aber richtig ist, das Einkommen steigt häufig nur gering, insbesondere bei Alleinverdienern mit mehreren Kindern. Aber es gibt einen unauflösbaren Zielkonflikt: Senkt man diese sogenannten Transferentzugsraten deutlich, weitet man den Kreis der Leistungsempfänger bis weit in die Mitte aus – mit entsprechend hohen Kosten. Entzieht man Leistungen schnell, lohnt es sich unter Umständen nur wenig, mehr zu arbeiten.

Wenn sich das Problem schon nicht ganz beheben lässt: Wie könnte man die Situation verbessern?
Ich hätte mir gewünscht, dass die Ampel Bürgergeld, Kindergrundsicherung und die Reform der Transferentzugsraten zu Beginn ihrer Regierungszeit aufeinander abstimmt. Dann hätte es vielleicht gelingen können, das System zu vereinfachen.

Jetzt haben wir über ein mögliches Weniger gesprochen. Und wo wünschen Sie sich vom Sozialstaat mehr?
Wir haben einen gut ausgebauten Sozialstaat mit vielfältigen Leistungen. Für eine langfristige Strategie gegen Armut halte ich es für zentral, den Sozialstaat auf Befähigung auszurichten. Wir können uns nicht leisten, dass ein Fünftel der Jugendlichen zu schlecht Lesen und Rechnen kann, um eine Ausbildung gut zu bestehen.

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Was heißt das genau?
Das Sozial- und das Bildungssystem sollten besser aufeinander abgestimmt werden und der Sozialstaat sollte Menschen besser als bisher dort unterstützten, wo er ohnehin mit ihnen in Kontakt kommt: über Sozialpädagogen an Schulen und in Kinderarztpraxen zum Beispiel.

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