Streiks „Wenn jemand in einer Gewerkschaft ist, verdient er nicht automatisch mehr Geld“

Über Jahrzehnte hinweg war eine Abnahme von Gewerkschaftsmitgliedern zu beobachten. Quelle: dpa

Bahn, Flughäfen, öffentlicher Dienst: Angestellte wollen mehr vom Kuchen. Simon Jäger, Chef des Instituts zur Zukunft der Arbeit, über die Machtprobe der Arbeitnehmervertreter, Streiks in Zeiten der Inflation und den Einfluss von ChatGPT.

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WirtschaftsWoche: Herr Jäger, drohende Streiks bei der Bahn und Arbeitsniederlegungen an Flughäfen, dazu der teuerste Tarifabschluss aller Zeiten im Öffentlichen Dienst. Man könnte sagen: Die Gewerkschaften zeigen gerade, was sie können, oder?
Simon Jäger: Eher nein. Bereinigt man das Lohnwachstum um den Anstieg des Preisindexes, dann ist über die letzten drei Jahre hinweg im Durchschnitt ein Reallohnverlust zu beobachten. Die aktuellen Tarifabschlüsse sind in einer Größenordnung, die diese Reallohnverluste ausgleichen. Ich sehe im Moment nicht, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen größeren Anteil des Kuchens, der realwirtschaftlich produziert wird, bekommen. Um das abschließend zu beurteilen, ist es aber noch zu früh.

Die Gewerkschaften treiben die Arbeitgeber also nicht vor sich her?
Höchstens ein wenig. Die Arbeitslosigkeit ist gering, es gibt viele offene Stellen, die nicht besetzt werden können. Das heißt: Wir haben tendenziell einen Arbeitnehmermarkt. Allerdings sind die Reallöhne, wie gesagt, noch nicht durch die Decke gegangen.

Im Moment scheinen Streiks in Deutschland aber dennoch zuzunehmen.
Es lässt sich nach ersten Zahlen eine Zunahme beobachten. Wegen der geringen Arbeitslosigkeit ist zum einen die Angst vor Entlassungen niedriger, zum anderen ist sie ein Zeichen, dass die Wirtschaft sehr gut läuft und es Gewinne gibt, von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Anteil möchten. Der dritte Aspekt ist die Inflation, die zu Unsicherheit führt. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite beäugen sich kritisch und fragen sich, wie groß der Gewinn-Kuchen und der eigene Anteil daran ist. Aus der Literatur wissen wir, dass Streiks ein Instrument sind, das auszutesten.

Simon Jäger ist CEO des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) und Associate Professor of Economics am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Quelle: IZA, David Degner

Zur Person

Verdi zum Beispiel hat innerhalb von 20 Jahren etwa ein Drittel seiner Mitglieder verloren. Gewerkschaftschef Frank Werneke sagte Ende März, dass seit Jahresbeginn aber 70.000 neue Mitglieder hinzukamen. Wie erklären Sie sich diese plötzliche Beliebtheit?
Es ist interessant, dass über Jahrzehnte hinweg eine Abnahme von Gewerkschaftsmitgliedern zu beobachten war. Übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen OECD-Ländern wie den USA. Dort wurde vergangenes Jahr ein Tiefpunkt erreicht. Weniger als sechs Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im privatwirtschaftlichen Bereich waren gewerkschaftlich organisiert. Durch eine sehr geringe Arbeitslosigkeit ist es für Arbeitgeber aktuell schwieriger, sich gegen Betriebsräte oder andere Formen der Arbeitnehmervertretungen durchzusetzen. Dass Angestellte schnell woanders einen Job finden, wissen nicht nur sie selbst, sondern auch die Firmen. Und wenn es einfacher ist, ein Unternehmen zu verlassen, dann steigt die Verhandlungsmacht.

Erleben wir also eine Trendwende und Renaissance der Gewerkschaften?
Es gibt Hinweise, die darauf hindeuten. Dem entgegen steht aber der langfristige Trend. Deshalb: abwarten. Gewerkschaften haben ein strukturelles Problem: Beschäftigung wird vor allem da abgebaut, wo es gewerkschaftliche Organisation gibt. Der Dienstleistungs- und Niedriglohnbereich hingegen wächst, ist aber kaum gewerkschaftlich organisiert. Das spricht gegen ein neues Erstarken.

Arbeitnehmerorganisationen könnten aber versuchen, in diesen Bereichen mehr Einfluss zu gewinnen?
Genau. Die Frage wird sein, wie dynamisch sich Gewerkschaften aufstellen können. Ich habe viel mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem Niedriglohnsektor gesprochen, die häufig auch Migrationshintergrund haben. Diese Menschen kennen teilweise keine Gewerkschaften und Betriebsräte. Das heißt: Die Herausforderung für Arbeitnehmerorganisationen wird sein, auch diese Gruppen verstärkt anzusprechen. 

Ist es ein Zeichen von der Schwäche der Gewerkschaften, dass der Mindestlohn gesetzlich geregelt wurde
Das ist eine spannende Frage. Es könnte insofern zu einer Schwächung geführt haben, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich sich fragen, wozu sie Mitglied in einer Gewerkschaft sein sollen. Andererseits: Nur wenn jemand in einer Gewerkschaft ist, verdient er nicht automatisch mehr Geld. Menschen sind aus verschiedensten Gründen in solchen Arbeitnehmervertretungen. Die Lohnhöhe spielt dabei eher mittelbar als ganz direkt eine Rolle.

Die Arbeitswelt wird sich in Zukunft stark verändern. Welche Rolle werden Gewerkschaften in einem Arbeitsmarkt spielen, der immer digitaler wird? 
Eine sehr wichtige. Gerade wenn wir auf Technologien wie künstliche Intelligenz oder ChatGPT blicken. Diese Errungenschaften stellen eine Kernfrage: Was ist eigentlich noch das, was menschliche Arbeit, die nicht ersetzt werden kann, ausmacht? Damit einhergeht die Frage nach der Würde bei der Arbeit und ob wir irgendwann nur noch kleine Rädchen in einem großen Getriebe sind. Gerade hier könnten Gewerkschaften sich einsetzen, um die Organisation von Arbeit mitzugestalten

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Inwiefern?
Natürlich stecken in diesen Technologien riesige Chancen, was Produktivität und die Minderung von menschlichem Leid angeht. Aber sie werden nicht automatisch dazu führen, dass es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser geht und inklusiver Wohlstand entsteht. Gerade in diesem Spannungsfeld können Gewerkschaften und die Tarifbindung eine wichtige Rolle spielen. Weniger als Verhinderer, sondern bei den Rahmenbedingungen, unter welchen solche Technologien eingesetzt werden, damit möglichst viele Menschen vom Produktivitätsgewinn profitieren. 

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