Tauchsieder
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Die Schattenkanzler

Olaf Scholz kann Mindestlohn und Deutschlandticket, aber weder Weltkrise noch Zeitenwende. Kein Wunder, dass Robert Habeck die Leerstelle füllt. Und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einfach am Kabinettstisch Platz nimmt. Eine Kolumne.

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Alle reden über Sahra Wagenknecht, das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ und über das Potenzial der Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW), die von Sahra Wagenknecht allerdings erst noch gegründet werden muss. Je nun. Petitessen. Einer frischen Umfrage zufolge können sich 29 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland und sogar 55 Prozent der AfD-Wähler vorstellen, bei einer der nächsten Wahlen für Wagenknecht zu votieren.

Der tiefroten Sahra könnte mithin gelingen, was der pechschwarze Friedrich (Merz) mal großspurig versprochen hat: die Rechtsradikalen halbieren. Nie war Sahra Wagenknecht so wertvoll wie heute. Ausgerechnet die erfolgreichste Ich-AG der Bundespolitik, die Meisterin mephistophelischer Volksverführungskunst, die Totengräberin der Linkspartei – ausgerechnet Sahra Wagenknecht, Dialektik der Geschichte, erlöst Deutschland von der neobraunen Plage?

Es klingt nicht schlecht. Kannibalisierung der Extreme. Zweimal zehn Prozent statt einmal zwanzig. Doch tatsächlich dürften die politischen Ränder mit der Hereinnahme des Bündnisses Wagenknecht nicht ausfransen, sondern wachsen. Das Hufeisen rundet sich zum Kreis. Die Übergänge zwischen Links- und Rechtspopulismus zerfließen. Und der von AfD und BSW emonational bewirtschaftete Protest- und Extremwähler kann sich seine Ablehnung der „Altparteien“ und „Mainstream-Medien“, der Quasselbuden-Politiker und Redaktionskonformisten, der ministriellen Coronadiktatoren und journalistischen Washingtonknechte künftig nicht nur doppelt bestätigen lassen – sondern hat dabei auch noch die Wahl zwischen putinfreundlichem Sozial-Chauvinismus und volksstolzer Europafeindlichkeit.

Was das konkret bedeuten kann, belegt eine weitere Umfrage: Danach würden die Wähler in Sachsen bei der nächsten Bundestagswahl die AfD zur stärksten Partei küren (32 Prozent), gefolgt vom Bündnis Sahra Wagenknecht (23 Prozent) – und weit vor CDU (18 Prozent), Grüne (8 Prozent) und SPD (7 Prozent). Anders gesagt: Der Demos in Dresden bildete eine rotbraune Mehrheit, verdammte die demokratische Mitte auf die Oppositionsbank – und sortierte FDP und Die Linke als Splitterparteien aus.

Neuauflage eines Kulturkampfes – undenkbar?

Fehlt nur noch, dass interessierte Muslime in Deutschland eine Partei gründen – nach dem Vorbild der katholischen Zentrumspartei im kaiserlichen Deutschland. Sie erreichte auf dem Höhepunkt des „Kulturkampfes“ Mitte der 1870er-Jahre bei den Reichstagswahlen immerhin rund 25 Prozent der Stimmen. Vier von fünf katholischen Wählern machten damals ihr Kreuz bei der Zentrumspartei, um ihren Glauben politisch in Stellung zu bringen gegen einen Staat, den sie als gottlos und übergriffig empfanden: Ihr Protest richtete sich gegen die Säkularisation und die Zivilehe, das Verbot politischer Kanzelreden und katholischer Organisationen („Jesuitengesetz“), das Wegsperren von 2000 Geistlichen, die Auflösung von Klostergemeinschaften und den Entzug der Schulaufsicht.
Aber die Neuauflage eines „Kulturkampfes“ unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts – das ist doch völlig undenkbar?

Seit vier Wochen nicht mehr. Tatsächlich spitzt sich die Muslimisierung der Politik und die Politisierung des Islam seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober (auch) hierzulande bedenklich zu – und unter dem Radar dessen, was die meisten Medien immer noch „pro-palästinensische“ Demonstrationen nennen, kippen einige Kundgebungen bereits in Fundamentalreligiöse, man könnte auch sagen: ins Islamfaschistische.

Am Freitag schwenkten Islamisten in einem Zug von 3000 Menschen in Essen etwa Banner im Taliban-Design und Plakate für die Errichtung eines Kalifats – womöglich nach Geschlechtern getrennt, so Beobachter. Und der Redner des Veranstalters, die Gruppe „Generation Islam“, sprach die Teilnehmer vor allem als Glaubensbrüder an: Alle Muslime der Welt müssten für die Palästinenser zusammenhalten.

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Er hätte auch sagen können: Unser religiöses Bekenntnis muss uns heilig sein und steht daher über allen politischen Erwägungen und moralischen Einwänden. Die Hamas sind Muslime, also gehören sie unterstützt, so wie auch die Mullahs in Teheran und die Taliban in Afghanistan, so die einfache binäre Logik – zumal im Kampf gegen Ungläubige. Es zeigt sich, dass es manchen Wortführern der sogenannten „Free-Palestine“-Bewegung nicht mal um eine politische Kontextualisierung des Nahostkonflikts und des Hamas-Terrorismus geht, sondern um seine Entkontextualisierung, Relativierung und Instrumentalisierung im Namen der Religion: Ihr Kampf für einen Staat „Palästina“ ist in Wahrheit ein erklärter Religionskrieg gegen den Staat Israel, den Zionismus – das Judentum.

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