Tauchsieder
Tun wir genug gegen Kriegstreiber Putin? Quelle: imago images

Tun wir genug dafür, dass Putin diesen Krieg verliert?

Kanzler Olaf Scholz hat die politische Führung des Landes an Robert Habeck abtreten müssen. Das ist kein Zufall. Der Vizekanzler markiert entschlossen unsere neuen Feinde. Viele Politiker und Manager lavieren lieber weiter. Eine Kolumne.

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Anton von Werner läuft am 15. Januar 1871 in Karlsruhe Schlittschuh mit seiner Verlobten Malvina, als ihn das Telegramm erreicht: Kronprinz Friedrich Wilhelm lässt dem jungen Geschichtsmaler ausrichten, er werde in Versailles „Etwas Ihres Pinsels Würdiges erleben“, sollte er in drei Tagen dort eintreffen können. Von Werner zögert nicht. Er kauft sich „einen dicken Reisepelz“, macht sich flugs auf den Weg – und erfährt drei Bahntage und Postkutschennächte später, dass er die „Errungenschaft des Krieges“ bildnerisch bannen soll: die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches.

Der „Deutsch-Französische-Krieg“ hat zu diesem Zeitpunkt bereits 170.000 Tote gefordert – und ist so gut wie entschieden. Jetzt geht es den unter Führung Preußens verbündeten Bundesstaaten Deutschlands darum, den deutschen Nationalstaat zu konstituieren und Frankreich maximal zu demütigen, auch symbolisch, also da, wo es den „Erbfeind“ besonders schmerzt, in der „Halle des mächtigsten, grausamsten Feindes“ (Graf Friedrich von Frankenberg), im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles: Endlich sei „die Schmach gesühnt, die von dieser Stätte und von diesem Königssitze aus dereinst auf unser Deutsches Volk gehäuft worden ist“, tönt der Hofprediger Bernhard Rogge.

Anderthalb Jahrhunderte ist das jetzt her. Es folgten 75 Jahre im deutsch-französischen Verhältnis, die geprägt waren von Hass und Misstrauen, von Feindschaft und Zerstörungslust. Und dann weitere 75 Jahre, geprägt vom Willen zur Versöhnung und zur Freundschaft, zum Frieden und zum geteilten Wohlstandszuwachs – in ganz Europa. Kein Wunder, dass es vielen Deutschen, Franzosen und Westeuropäern heute schwer fällt, sich noch „Feinde“ vorzustellen, also Nationen, die uns nicht nur als Konkurrenten gegenüberstehen – so schwer wie es vielen Europäern vor gut 100 Jahren gefallen ist, sich „Freunde“ vorzustellen, also benachbarte Staaten, an denen ihnen mehr liegen könnte als an Bündnispartnern auf Zeit und aus Selbstinteresse.

Und doch gibt es sie, gibt es Feinde, auch heute noch: Putins Russland hat die Ukraine überfallen und das Völkerrecht gebrochen, es hat Europa und dem Westen ideologisch den Krieg erklärt, es greift die Freiheit, die Demokratie, unsere regelbasierte Ordnung und unser Weltverständnis an. Putins Generäle und Soldaten zerstören Städte, bomben Kinder in den Tod und vertreiben Millionen, sie ziehen eine Spur der Verwüstung durch die Ukraine, morden offenbar noch auf dem Rückzug aus Kiew wahllos Zivilisten, hungern Mariupol aus. Putins Regime sucht permanent und mit allen Mitteln, Europa zu destabilisieren, ermordet und vergiftet Kremlkritiker, mitten unter uns. Deshalb ist Putins Russland, spätestens seit dem 24. Februar 2022, unser Feind. Putins Russland hat uns zu seinem Feind erklärt, und wir müssen diese Rolle annehmen – das ist der Kern der „Zeitenwende“, die Kanzler Olaf Scholz vor fünf Wochen ausgerufen hat. Ausgerufen. Aber hat er, haben wir, die Dimension dieser Zeitenwende auch schon verstanden? Ziehen wir die richtigen Konsequenzen?

Deutschland muss alles dafür tun, Putin zu schwächen

Ich fürchte nein. Die Bundesregierung preist sich für ihren „Paradigmenwechsel“, sie liefert plötzlich Waffen in die Ukraine und versucht jetzt eilends, die Bundeswehr passabel auszurüsten, sie hat zügig scharfe Sanktionen gegen Russland verhängt und will die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Öl und Gas „beenden, so schnell, wie das nur irgend geht“ (Scholz). Aber tut sie auch genug, um den Feind zu besiegen, ihn in die Knie zu zwingen? Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nun schon fast 40 Tage – und seit 35 Tagen lassen wir es im Wesentlichen darauf bewenden, unsere Sofortmaßnahmen wirken zu lassen.

Die wesentlichen Sanktionen gegen Russland

Dabei scheint Putin ein bisschen schwach gerade, der Zeitpunkt günstig, ihn noch weiter zu schwächen. Wir dürfen ihn, sein Regime und seine ideologiefesten Unterstützer jetzt nicht davonkommen lassen. Wir müssen alles dafür tun, dass Putin diesen Krieg verliert – und zwar gründlich verliert, also so, wie die Sowjetunion und die USA im 20. Jahrhundert ihre Kriege in Afghanistan und Vietnam verloren haben: als gedemütigter Scheinriese, zum Rückzug gezwungen – sofern die Ukraine bereit ist, diesen Weg zu gehen. Unklare Territorialansprüche und Bündnisbeitrittsmoratorien, ein strittiger Neutralitätsstatus und eine aufgeschobene EU-Perspektive dürften (nicht nur) aus Sicht der Ukraine immer nur zweitbeste Lösungen sein – allenfalls erträglich, um den Horror des Kriegs zu beenden.

Putins Russland will Unruhe stiften

Putins Russland will genau das: eine semisouveräne Ukraine, die seinen „Sicherheitsinteressen“ unterworfen ist und im Schatten seiner dauernden Drohgebärden steht, einen permanenten Unruheherd mit annektierten Gebieten, in denen Russland  russische Pässe verteilt und den Rubel rollen lässt, in denen Russland prorussisch gestimmte „Referenden“ erzwingt, um die selbst ernannten „Volksrepubliken“ jederzeit „befreien“ zu können. Putins Russland will zündeln und Unruhe stiften, will Kriege führen, Macht über andere souveräne Staaten ausüben und Angst verbreiten – will seine Feinde schwächen, permanent: die Nato, die USA, Europa. In einer solchen Situation, in der die Sicherheitsinteressen unserer Freunde bedroht sind, muss deutlich werden, dass uns die „Sicherheitsinteressen“ Moskaus nullkommanull interessieren.

Schneller schlau: Nato

Ein „gefrorener Krieg“ in der Ukraine? Zurück zum status quo ante? Eine hochgerüstetes Europa in dauernder Kriegsangst? Ein totalitäres, propagandistisch verhetztes Russland, das nicht nur in der Ukraine, sondern auch permanent in Serbien und Bosnien, in Georgien und Moldau ein Europa demokratischer Staaten unterminiert? Das kann nicht das Kriegsziel in Kiew, Brüssel und Berlin, in Washington, Paris und Warschau sein.

Jeder Kilometer zählt

Deshalb ist jetzt jeder Kilometer wichtig, den die ukrainischen Truppen Russland aus dem Land, möglichst zurück hinter die Grenze drängen können. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns diesseits der roten Linie (Flugverbotszone, Nato-Kriegseintritt) jeden Tag prüfen, ob wir wirklich genug tun, um die Ukraine gegen unseren Feind zu unterstützen – und nicht, ob es vielleicht schon reicht. Dass wir uns jede Stunde fragen, was wir außerdem tun können, um Putins Russland zu besiegen – und nicht, was womöglich besser zu vermeiden ist, weil es auch uns noch ein klein bisschen mehr kosten könnte.



Es ist genau dieses „Mindset“, das die Politik von Kriegswirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock in diesen Wochen bestimmt – und eher nicht die von Olaf Scholz, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und Finanzminister Christian Lindner. Die beiden Grünen führen das Land in dieser Krise, in diesem Krieg, niemand sonst, man muss es so deutlich sagen. Sie erfassen die Dimension der „Zeitenwende“ und kommunizieren sie auch, im Hinblick auf die Auswirkungen in Deutschland und die Reaktionsmöglichkeiten der Politik in all ihren Aporien und Widersprüchen, nachdenklich und zweifelnd, was eigene Initiativen und mögliche Fehler im Regierungshandeln anbetrifft, zugleich felsenfest und klar gegenüber Putins Regime.

Es ist für Deutschland, speziell für viele friedensbewegte Grüne und Linke, die die Bundeswehr jahrzehntelang mit entwaffnendem Gleichmut der Wehrunfähigkeit ausgeliefert haben, ein ungemütlicher Sturz nach vorn: in eine neue, herausfordernde Welt der Verteidigungsbereitschaft, Konfrontation und möglichen Blockbildung, aber auch der konkurrierenden, sich vielfach kreuzenden, nationalen Spezialinteressen und Weltgemeinschaftsaufgaben, in der nichts weniger zielführend ist als dichotomisches Denken (autoritärer China-Russland-Block versus demokratischer Westen). Und Habeck und Baerbock verstehen es in dieser moralisch uneindeutigen Welt paradoxerweise moralisch eindeutig zu handeln – das ist der eigentliche Grund, warum ihnen in diesen Wochen die Herzen so vieler Deutscher, auch im Lager des politischen Gegners, zufliegen.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlicht, dass der Grundwertekompass von Habeck und Baerbock verlässlich ist, weil sie glaubhaft den Eindruck erwecken, „Freiheit“ basaler, elementarer und empathischer zu denken als viele politische Weggefährten in Regierung und Opposition, sozusagen urchristlich (und mit der amerikanischen Politologin Judith Shklar) auch politikpraktisch als „Freiheit von Furcht“: Frei ist (zunächst einmal), wer frei ist von Hunger und Durst, Schmerz und Angst, Bedrohung und Einschüchterung – wer nicht in der Macht eines anderen steht.

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