Tauchsieder
Putins Zerstörungslust und die Verbrechen Russlands in der Ukraine, das Versagen der SPD und die kanzleramtliche Angst vor dem Atomtod, die parteiische Neutralität Chinas und die Orientierungslosigkeit Europas – eine Chronik und Bilanz des ersten Kriegsjahres. Quelle: imago images

Und plötzlich wieder Feindschaft lernen

Putins Zerstörungslust und die Verbrechen Russlands in der Ukraine, das Versagen der SPD und die kanzleramtliche Angst vor dem Atomtod, die parteiische Neutralität Chinas und die Orientierungslosigkeit Europas – eine Chronik und Bilanz des ersten Kriegsjahres.

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Noch ein Text zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine? Über den Krieg, die „Zeitenwende“ und die „neue Weltunordnung“? Über die totalitäre Wende in Moskau, die parteiische Neutralität Chinas, die Sanktionspolitik des Westens und das Schlingern des Bundeskanzlers in diesen weltstürzenden Monaten? Nein, nicht noch ein Text. Sondern ein Kompendium: Hinführungen und Links zu zwei Dutzend Texten des Kriegsjahres, die sich wie Abschnitte eines gedachten Buches lesen ließen: teils chronologisch gereiht, teils thematisch sortiert, zum Nachlesen, Erinnern, Wachrufen – und zur gründlichen Vertiefung in die wichtigsten Grundlagen, Aspekte und Konsequenzen des Krieges. Also los:

Wladimir Putin stoppen – aber wie? Die Frage stellt sich lange vor dem 24. Februar 2022. Der Bau der Pipeline Nord Stream 2, von den Bundesregierungen Merkel und Scholz protegiert als „rein privatwirtschaftliches Projekt“ (Scholz), ist ein schwerer außenpolitischer Fehler: eine Missachtung europäischer Interessen – und exakt das falsche Signal an Moskau. Darauf weisen seit vielen Jahren nicht nur Polen, die baltischen Staaten (und US-Präsident Donald Trump), sondern auch fast alle Osteuropa-Forscher hin. Sie warnen Berlin, dass Russland sich von einer Autokratie in einen totalitären Staat verwandelt, dass Staatschef Putin die Krim annektiert hat und längst imperiale Ziele verfolgt, dass er die Ergebnisse des Mauerfalls, die Nato-Osterweiterung und die Westeuropäisierung der Ukraine revidieren will: mit Gewalt. Man kann das Schulterzucken der meisten Politiker Ignoranz nennen. Oder Wissenschaftsverachtung. Oder, im Falle der zahlreichen Schröders und Schwesigs in der SPD auch: vorsätzliche Verkumpelung mit einem Potentaten.

Selbst als Putin im Herbst 2020 den Oppositionellen Alexei Nawalny vergiftet, denkt die Bundesregierung nicht im Traum daran, das Pipeline-Projekt, geschweige denn Putin zu stoppen. Statt dessen: Business as usual. Wie immer. Wie nach dem „Tiergartenmord“ und „Skripal“, nach der Annexion des Donbass und dem Abschuss eines Verkehrsflugzeugs über der Ukraine. Amtliche Unmoral, maskiert als „Realpolitik“. Eine peinlich verpasste Chance, die Abhängigkeit von Russlands fossilen Energien zu minimeren – und Putin in die Schranken zu weisen:

„Der Stopp des Pipelinebaus wäre ein erster Schritt. Der zweite: ein beherzter Zugriff auf die Auslandsvermögen von Menschenrechtsverletzern, Potentaten und ihren Günstlingen… Putin will mit Nord Stream 2 die sprudelnden (Selbst-)Bereicherungsquellen seiner ‚fossilen Rentenökonomie‘ (Ralf Fücks) sichern, mithin die Fundamente seines Machtapparates… Jede Schwächung der russischen Kohle-, Gas-, und Ölindustrie (wäre) eine Schwächung des Systems Putin.“


Die ökonomischen Prämissen von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sind bis heute stark unterbelichtet, obwohl sie sinnbildlich stehen für Putins neofeudales Herrschaftsverständnis, seine Verachtung der Menschen und seine Lust an der Destruktion. Putin hat zwei Jahrzehnte lang alle Chancen, seinen Landsleuten ein besseres Leben in Europa und an der Seite von Freunden zu ermöglichen. Aber er ist ein wirtschaftspolitischer Versager. Er behandelt Land und Leute wie Besitz und Beute. Und er lässt Russlands Ökonomie nur zur Maximierung ihrer Zerstörungskraft produktiv werden, das steht der Welt vier Wochen vor dem Einmarsch, im Januar 2023, klar vor Augen:

„(Putin) presst… seit zwanzig Jahren die letzten Tropfen Gas und Öl aus der russischen Erde, um sich mit den Erträgen von seiner postsowjetischen Belastungsstörung zu kurieren und seinen russifizierten Zarenreichsfantasien nachjagen zu können… Wer mit der Zukunft seines Landes nichts anzufangen weiß, sucht sein Heil in der Glorifizierung der Vergangenheit… (und) fesselt (sein Land) an den alten Mythos von der leidensfähigen, russischen Seele: ‚Tiefe des Volksherzens‘ (Dostojewski) statt zivilisatorischer Fortschritt, ökonomische Oblomowerei statt gründerselige Zukunftslust, politische Destruktion statt Kooperation: Es ist kein Zufall, dass sich Russlands technologische Modernität der übrigen Welt nurmehr durch Hyperschallraketen und Hackerangriffe mitteilt.“


Zwei Wochen vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verbrüdern sich im Vorfeld der Olympischen Winterspiele in Peking Russland und China gegen den Westen, um das Narrativ einer expansiven, interventionistischen Nato zu etablieren: Das „Joint Statement“ der „unverbrüchlichen Freunde“ vom 4. Februar 2022 ist das Gründungsdokument einer autokratischen Allianz, die vorgibt, von den USA und der Nato bedroht zu werden – und sich wehren zu müssen. Im Kern versichern sich China und Russland, ihre Einflusszonen und territorialen Ansprüche anzuerkennen – und deuten damit ex ante denkbare „Militäroperationen“ gegen die Ukraine und Taiwan zu Präventivkriegen um.

Der chinesische Präsident Xi Jinping (rechts) und der russische Präsident Wladimir Putin während ihres Treffens in Peking am Freitag, den 4. Februar 2022. Quelle: AP

Spätestens jetzt muss jeder wissen: Putin will die Ukraine überfallen. Doch Europa, speziell Deutschland, will es nach wie vor nicht wahrhaben. Man hat sich agonales Denken in den drei Jahrzehnten seit dem Mauerfall gründlich abtrainiert, bewegt sich gedanklich in Pfadabhängigkeiten der Kooperation, in den Logiken der Diplomatie, des Dialogs und der polit-kaufmännischen Rationalität – und entwickelt keine „politische Strategie… gegenüber zwei Autokraten, die die Welt neu ordnen, auch mit Gewalt“, stellt sich nicht der „(Gegenwart und) Latenz eines Krieges, den Putins Russland (erneut) der Ukraine aufzwingt“ (6. Februar 2022). Statt dessen erscheint Bundeskanzler Olaf Scholz den Deutschen zum ersten Mal als der Zauderer und Zögerer, der der Weltgeschichte in den nächsten Monaten konsequent hinterher amtieren wird:

„Scholz ist exakt der Typus Politiker, der seiner stillen Kärrnerarbeit wegen geschätzt werden will und dessen Schelmenstolz sich aus der unendlich sprudelnden Quelle heimlicher Überlegenheitsgefühle speist. Er dirigiert gern im Hintergrund, regiert Sachlagen als lauernder Besserwisser von ganz weit hinten – und überlässt anderen so lange die Diskussionsbühne, bis er sich zuletzt meint herablassen zu sollen kraft seiner überlegenen Autorität.“


Entsprechend groß ist der Schock nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Scholz hält im Bundestag seine bislang beste Kanzlerrede. Zeitenwende. 100 Milliarden für die Bundeswehr. Zwei-Prozent-Ziel der Nato. „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht Recht brechen darf“. Das Problem: Die Vokabel „Zeitenwende“ entlastet viele, die sich jetzt versammeln hinter der Formel, das mit Russlands Überfall auf die Ukraine keiner habe rechnen können. Das noch größere Problem: Viele, voran der Kanzler, wollen die „Zeitenwende“ bis in den Sommer hinein nicht wahrhaben – sie den Deutschen vor allem ersparen. Auch viele Manager, die im Interesse der Protektion ihrer Geschäftsinteressen an „die Vernunft“ Putins glauben:

„Man sollte ihnen nicht auf den Leim gehen. Die Zäsur stößt uns nicht etwa plötzlich und überraschend zu, sondern sie vollzieht sich seit langen Jahren und vor aller Augen, (ist das Ergebnis) eines guten Jahrzehnts der politischen Wirklichkeitsverschleppung… (Es war) naiv…, die politische Wirklichkeit als lineare Fortschrittserzählung einer waltenden Weltvernunft zu trivialisieren, sie zu verkitschen in der ruchlosesten aller optimistischen Geschäftsformeln vom ‚Handel durch Wandel‘. (Jetzt wachen wir wieder auf) in einer Welt, die (eben) nicht nur von unserem postmilitärischen, postagonalen, postnationalen, rein kaufmannslogischen Rational geprägt ist – sondern in der immer auch mit anderen ‚Potenzen‘ zu rechnen ist: (mit) ‚Staat‘, ‚Nation‘, ‚Religion‘, ‚Kultur‘ und ‚Geschichte‘, auch ‚Machtstreben‘, ‚Gewalt‘ und ‚Stolz‘ und ‚Ehre‘.


Was diese „Potenzen“ im Falle Putins genau bedeuten? Viele sind mit begrifflichen Etiketten schnell bei der Hand und sprechen von einem neuen „Faschismus“, was aber höchstens teilweise stimmt, weil Putin keine Massen bewegt – und der Begriff eher verwässert als schärft, worum es im Kern geht: Putins Ideologie ist eine Mischung aus sakralisierter Geschichtsphilosophie und großrussischer Sendungsidee:

„Der Putinismus (ist) vielleicht am besten als ‚prätorianisches Regime‘ und ‚postmoderne Diktatur‘ zu verstehen. Die Staatsideologie (ist geprägt) von russifizierten Zarenreichsfantasien und einem selbstbewusst vorgetragenen Neoimperialismus… Das Russische (ist) zu einem ‚kulturellen Code‘ essenzialisiert, religiös legitimiert durch die russische Orthodoxie, metaphysisch grundiert durch das ‚Russische Reich‘,… verheiligt als Einheit von Staat und Reich, Kultur und Geschichte, Volk und Nation – in scharfer Abgrenzung zum Multikulturalismus des Westens, seiner kühlen Rationalität und seiner demokratischen Tradition der ‚checks and balances‘. Kurzum: Putins Russland ist ein Gegenentwurf zu allem, was Europa lieb und teuer ist.“


Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Aufsatz „Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft“ vom 19. Juni 2020, den Hobbyhistoriker Putin zum „75. Jahrestag des Großen Sieges“ geschrieben hat – und in dem er den heroischen Abwehrkampf Russlands gegen Nazi-Deutschland feiert und mit der Gegenwart einer herbei halluzinierten Bedrohungslage verknüpft: Hier offenbart sich der Putinismus in Reinform, der Kern seiner negativen, zynischen Ideologie, deren Kraftquell die angebliche Demütigung Russlands ist, der opferreiche Widerstand gegen nazistische Aggressoren, die Russland angeblich abermals vernichten wollen:

„Putin (begreift) den Zusammenbruch der Sowjetunion als schwärende Wunde eines superioren Volkes und der russischen Reichsidee. Und er beutet nun mit aller Gewalt den verletzten Stolz einer Nation und ihre gekränkten Verlustgefühle aus, aufgepumpt und durchpulst von radikalisierter Revisionslust, von Revanchismus und Rachsucht – inzwischen vollkommen blind dafür, dass er Russland damit (übrigens ganz im Gegensatz zu China) ins Gefängnis seiner Vergangenheit sperrt, statt ihm Zukunftsperspektiven zu eröffnen: ‚Wir wissen, was wir tun müssen, wie wir es tun müssen und zu welchem Preis‘, so Putin – und wenn der Preis eine abermalige Niederlage ist? Ist Russland abermals gedemütigt – aber erst recht nicht verloren, in Wahrheit größer denn je. Wirklichkeit und Wahn.“


Das Problem Anfang April ist, dass die Bundesregierung, voran Scholz, die imperialen Konsequenzen des nationalmythologischen Geschichtskitsches und die Anti-Nato-Entente China-Russlands, mithin die historische Dimension der „Zeitenwende“ nicht versteht und auch die Wirtschaft nicht wahrhaben will: Putin hat den Westen zu seinem Feind erklärt.

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