Tauchsieder
Laschet oder Baerbock: Wer schafft mehr Fehler im Wahlkampf? Quelle: dpa Picture-Alliance

Zweite Wahl

Die Laschet-Union und die Baerbock-Grünen – zwei politische Weichwährungen im Abwertungswettlauf. Eine Bodenbildung nach dem Kursverfall? Nicht in Sicht. Eher brechen die letzten Unterstützungslinien.

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Es ist eine Schmach für die Grünen, und so sehr sich die Parteispitze auch bemüht, das Thema klein zu schweigen: Ausgerechnet die politische Organisation in Deutschland, die sich bollenstolz auf ihre „basisdemokratische“ Tradition beruft und den herrschaftsfreien Diskurs pflegen will, die sich gleich in ihrem ersten Programm (1980) auf die „verstärkte Verwirklichung dezentraler, direkter Demokratie“ verpflichtete und deren „Netzwerk Lebendige Demokratie“ sich heute für die „Transparenz und Nachvollziehbarkeit“ demokratischer Prozesse einsetzt – kurzum: ausgerechnet die Partei der allerhöchsten Partizipationsansprüche muss sich nun vorwerfen lassen, von oben herab „gegen den Kernbereich der demokratischen Verfahrensgrundsätze“ verstoßen zu haben. Das ist keine Kleinigkeit. Das erschüttert das Selbstbild der Grünen. Das schädigt ihre DNA.

Was ist passiert? Der Bundeswahlausschuss hat am Donnerstag die Entscheidung des Landeswahlausschusses bestätigt, dass die Grünen bei der Bundestagswahl am 26. September im Saarland keine Zweitstimmen einsammeln dürfen. Die erste Listenaufstellung der Saar-Grünen im Juni wurde für ungültig erklärt, nachdem der Landesvorsitzende Hubert Ulrich sich Platz eins ergaunert hatte; das Ergebnis verstieß nicht nur gegen das „Frauenstatut“ der Partei (jede Landesliste wird von einer Frau angeführt), sondern schloss auch das Votum nicht stimmberechtigter Mitglieder ein.

Der zweite Versuch missglückte, weil das Bundesschiedsgericht der Grünen Delegierte aus dem Ortsverband Ulrichs von der Listenaufstellung ausschloss, weil man bei der Wahl dieser Delegierten Unregelmäßigkeiten festgestellt habe. Die Wächter der Bundestagswahl wiesen dieses Argument der Bundesgrünen nun schroff zurück: Der dreiste Coup des Landesverbands, so lässt sich ihr Votum zuspitzen, rechtfertigt keinen Willkürakt der Zentrale.



Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock steht nun einmal mehr blamiert da. Und ihre Chancen aufs Kanzleramt schwinden. Bei der Bundestagswahl 2017 sammelten die Grünen im Saarland 35.117 Stimmen ein, das entspricht (bei bundesweit damals 4.158.400 Stimmen) einem Anteil von 0,84 Prozent. Das ist nicht viel – aber womöglich genug, um ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Grünen und SPD am Wahlabend auf denkbar peinliche Weise zu verlieren. Im Schnitt der jüngsten Wahlumfragen liegen die Grünen nur noch knapp vor den Sozialdemokraten – und Baerbock in der „Direktwahlfrage“ weit hinter Olaf Scholz (SPD).

Dabei glückte der Versuch der Partei, in der vergangenen Woche mit der Vorstellung eines Sofortprogramms für den Klimaschutz inhaltlich in die Offensive zu kommen, auf spektakuläre Weise: ein Klimaministerium mit Vetorecht und ein Vorziehen des Kohleausstiegs, eine rasche Erhöhung des CO2-Preises und Tempo 130 auf Autobahnen, ein Umwidmung von Investitionen (Radwege statt Autobahnen) und beschleunigte Verfahren zum Ausbau der Windenergie – die Grünen bewiesen mit dem Sum-up ihres Wahlprogramms an diesem Dienstag einmal mehr, dass keine andere demokratische Partei die Deutschen mehr bewegt: Jeder Wähler weiß, warum er sie wählt oder nicht.

Und weil die Parteien der altbürgerlichen Mitte nichts so sehr scheuen wie eine Mobilisierung der Deutschen für normative Ziele, reagierte die Konkurrenz prompt, panisch, plattitüdenplump: Die Grünen zögen „alle Register der Verbotsorgel“, gab FDP-Chef Christian Lindner mal wieder zur Protokoll. Die Grünen gerierten sich „staatsautoritär“, sekundierte mal wieder der CDU-Politiker Friedrich Merz. Es war ein klarer Punktsieg für die Grünen.

Und für ihren Co-Vorsitzenden Robert Habeck. Denn Habeck legte am Abend mit einem staatsmännischen Auftritt im Fernsehen nach: Nein, das Wetter werde sich durch die Klimaschutzmaßnahmen der nächsten Bundesregierung nicht beruhigen lassen, referierte er nüchtern den wissenschaftlichen Stand der Dinge: „Das ist ausgeschlossen… Dafür ist einfach schon zu viel passiert.“ Es gehe jetzt nur noch darum, den Kipppunkt nicht zu erreichen – zu verhindern, dass die Erde „auf einmal drei, vier, vielleicht mehr Grad“ heißer werde. Es war einer der vielen Momente in den vergangenen Wochen, in denen man sich fragte: Warum um Himmels willen haben die Grünen nicht Habeck auf den Schild gehoben?

Habeck wirkt an der Seite einer Spitzenkandidatin, die ihre nur zu begründete Unsicherheit auf der großen politischen Bühne kessforschfrech überspielen muss und eben damit zugleich ausstellt, inzwischen wie der natürliche Souverän der Grünen – und er ist stolz und subtil genug, diesen Eindruck auch immer mal wieder zu erwecken: mal mit einem sporadisch abschätzenden Blick auf Baerbock, mal mit einer ironischen Schmunzelei, mal mit einem minimalen Hinweis auf die eigene Generosität und Teamfähigkeit: Ich habe ihr den Vortritt gelassen (Schulterzucken), die Partei wollte es so (Schulterzucken). Jeder Auftritt Habecks ist inzwischen halb Hilfeleistung, halb Hypothek für Baerbocks Kampagne.

Die entscheidende Frage für die Grünen lautet daher in den nächsten sieben Wochen: Kann Habeck die indirekte Entblößung der Spitzenkandidatin zum Vorteil der Grünen nutzen oder nicht? Zuzutrauen wäre es ihm. Man stelle sich etwa vor, Habeck schlösse in einem Interview diese Woche definitiv Grün-Rot-Rot aus – etwa weil Dietmar Bartsch, der Spitzenkandidat der Linken, sich partout nicht entscheiden kann, ob er den demokratisch gewählten US-Präsidenten Joe Biden oder den autokratisch durchregierenden Menschenrechtsverächter Wladimir Putin politisch sympathischer findet. Baerbock hat diesen Elfmeter vergangene Woche liegen lassen, klar. Aber warum?

Wer Kanzlerin werden will in Deutschland, muss sich stark mittig positionieren, also auch einer Zusammenarbeit mit der Linken entsagen – hat man sich in der Parteizentrale der Grünen darüber etwa keine Gedanken gemacht? Worauf wartet Baerbock? Oder anders gefragt: Was wollen die Grünen eigentlich? Sich volksparteilich positionieren und die Regierungschefin stellen? Oder sich bloß sonnen in ihren guten Gesinnungen und (nicht mehr ganz so) guten Umfragen, ein bisschen mit der Macht rumspielen – und eine fröhlich-frische Als-ob-Kandidatin ins Schaufenster stellen? Die ganze Kanzlerin-Kampagne der Grünen wirkt inzwischen nur noch kindisch. Sie spottet mit jedem weiteren Tag dem sach- und machtpolitischen Gestaltungsanspruch der Partei. Und verkleistert mit gaaaanz viel prima Klima das Profil einer Jekyll-and-Hyde-Partei, die freiheitlich gesinnte Menschen tagsüber südwestdeutsch-vernünftig für sich einnimmt, um sich deren Staat nachts kreuzbergerisch-übergriffig zur Beute zu machen.

Und damit jetzt bloß keine Schadenfreude auf Seiten der Union aufkommt: Die Vorstellung von CDU und CSU verhält sich zur Performance der Grünen wie der Keller zum Souterrain. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) lässt überhaupt gar keine Gelegenheit mehr zur öffentlichen Demontage von Armin Laschet (CDU) aus – und das mit Recht: Nicht nur Söder ("Ich bin ein braver, ganz treuer gemeinsamer Unionswahlkämpfer") findet die Mischung aus Nonchalance und Bräsigkeit, mit der der Kanzlerkandidat sowohl dem Wahlabend als auch dem „Modernisierungsjahrzehnt“ entgegen döst, nur noch aufreizend. Tatsächlich hebt Laschet die „asymmetrische Demobilisierung“ der Angela-Merkel-Jahre noch einmal auf ein ganz neues Minusniveau: So wenig nichts war nie in der CDU – allerreinste Inhaltsleere, purifizierte Anspruchsarmut.

Die CDU bewirtschaftet das Heute lustloser denn je im Modus des Gestern, und das alles nur, um auch nach Merkels Abschied die „Flügel“ nicht aufzuschrecken, die Partei im Namen einer gestaltlosen „Mitte“ scheinbar zu versöhnen: eine Partei im Dauerburgfrieden mit sich selbst – bis auseinander fällt, was auseinander zu fallen gehört. Glaubt man den Umfragen, wenden sich inzwischen nicht nur die Jungen von der Union ab, sondern alle, die noch irgendetwas von diesem Land erwarten. Nur noch jeder fünfte Deutsche möchte sich Laschet als Kanzler vorstellen. Und es ist bezeichnend, dass man das im Adenauer-Haus offenbar nicht mal mehr als Warnsignal empfindet.

„Natürlich kostet Klimaneutralität viel Geld. Trotzdem wird unser Ziel am Geld nicht scheitern. Es sind weltweit gigantische Summen auf der Suche nach rentablen und nachhaltigen Anlagemöglichkeiten“, twitterte in diesen Tagen Norbert Röttgen, der die Union auch gern geführt hätte, und: „Mit kluger Regulierung und Planbarkeit wird Klimaschutz zum business case“ – wenn Laschet uns doch nur einmal (einmal!) mit einem solchen Satz überraschen würde.

Stattdessen überrascht uns Friedrich Merz ganz und gar nicht, nämlich mit altmännerideolgischer Desinformation: Weder haben die Grünen ein klimapolitisches Veto-Recht gegen den Bundestag gefordert, wie Merz behauptet, noch wollen sie "möglichst viele Einwanderer nach Deutschland" einladen, weder wollen die Grünen dafür sorgen, dass die Gendersprache "uns allen aufgezwungen" wird noch strebt irgendjemand von Belang die „Deindustrialisierung“ Deutschlands an – und schon gar nicht hat auch nur eine Person von politischer Relevanz behauptet, die Unwetter und Hochwasser an Wupper, Erft und Ahr verdankten sich „monokausal“ dem Klimawandel. Wie tief kann Wahlkampf sinken? Merz will es wohl "uns allen" zeigen: Hier deklassiert sich auf offener Bühne ein ehemaliges politisches Talent als Denunziant und Massenproduzent von Strohmann-Argumenten.

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Genug. Nur eines noch, zum Abschluss: Man stelle sich für einen kurzen Moment die Option Schwarz-Grün mit Söder, Röttgen, Habeck vor. Ganz egal, wie man dazu steht: Das wäre ein Projekt mit 60-Prozent-Potenzial, das noch dazu – gewissermaßen als Kollateralnutzen – Menschen wie Hans-Georg Maassen in der Union sowie besonders engagierten Enteignungsgrünen die Chance eröffnete, sich eine neue politische Heimat zu suchen. Na, kurz geträumt? Dann bitte schnell aufwachen und den Tatsachen tapfer ins Auge blicken: Die Laschet-Union und die Baerbock-Grünen – das sind, sieben Wochen vor der Bundestagswahl, zwei politische Weichwährungen im Abwertungswettlauf - relativ stark nur in Bezug auf die Schwäche der anderen. Eine Bodenbildung nach dem verdienten Kursverfall? Nicht in Sicht. Eher brechen die Unterstützungslinien. Und die Flucht in andere Werte  beschleunigt sich.

Mehr zum Thema: Das Klimaschutz-Sofortprogramm der Grünen: Der Umbau der Wirtschaft weg von fossiler Energie soll alles in einer Regierung mit den Grünen bestimmen. Eine Analyse.

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