Wer die Verhandlungen führt
Nur wenige Stunden nach Veröffentlichung des Abstimmungsergebnisses gab Premier David Cameron am Morgen zunächst der Queen und dann der Öffentlichkeit seinen Rücktritt bekannt. In drei Monaten werde er das Amt übergeben, an wen ist noch unklar. Überraschend kommt das nicht. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt - und verloren. Das Votum gegen die Union ist nicht nur ein Votum gegen Camerons ausdrückliche Position. Es ist auch eine herbe Niederlage im parteiinternen Machtkampf, der sich schon über Jahre zieht. Der Premier selbst hatte das Referendum schließlich initiiert, um parteiinternen EU-Skeptikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Camerons Nachfolger wird also den Austritt abwickeln und die damit verbundenen Verhandlungen führen.
Der rechtliche Rahmen
Auch, wenn der Austritt eines Mitgliedsstaats beispiellos ist: Der Ablauf ist vertraglich festgelegt. „Der Vertrag von Lissabon, auf dem die heutige EU basiert, sieht in Artikel 50 vor, dass ein Austritt eines Mitgliedstaats möglich ist und innerhalb zweier Jahre die genauen Konditionen verhandelt werden“, erklärt die Freiburger Politikwissenschaftlerin Professor Diana Panke. Der entscheidende Artikel sieht folgende Schritte vor: Zunächst müsste Großbritannien den Europäischen Rat formell über seine Absicht informieren, die EU zu verlassen. Die Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitglieder (ohne Großbritannien) würden dann die Leitlinien für die Austrittsverhandlungen festlegen.
Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung
Seit mehr als 43 Jahren sind die Briten Mitglied der Europäischen Union. Doch jetzt ist der Austritt beschlossene Sache. Schwierig waren die Beziehungen von Anfang an. Ein Rückblick:
Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt.
Der französische Präsident Charles de Gaulle legt sein Veto gegen eine Mitgliedschaft der Briten in der EWG ein. 1973 tritt Großbritannien schließlich doch bei.
Erst nachdem Premier Harold Wilson die Vertragsbedingungen nachverhandelt hat, sprechen sich die Briten in einem Referendum mit 67,2 Prozent für einen Verbleib in der Gemeinschaft aus.
Mit den legendären Worten „I want my money back“ (Ich will mein Geld zurück) handelt die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Britenrabatt aus. London muss fortan weniger in den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft (EG) einzahlen.
EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit.
Der britische Premier John Major kündigt eine europafreundliche Politik seiner Konservativen Partei an, scheitert damit aber parteiintern. Er handelt aus, dass London nicht am Europäischen Währungssystem teilnimmt.
Der britische Premier Tony Blair gerät mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac über ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ in Streit.
Blair lässt einen EU-Gipfel zum mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union (EU) scheitern, stimmt Monate später aber doch zu und akzeptiert ein Abschmelzen des Britenrabatts.
Mit Inkrafttreten des EU-Vertrages von Lissabon kann London wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkt die britische Regierung den Ausstieg aus mehr als 100 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag.
Der britische Premier David Cameron verweigert seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt.
Cameron droht mit einem Veto bei den Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU.
Cameron kündigt eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU bis spätestens 2017 an. Bis dahin will er die Rolle seines Landes in der EU neu aushandeln und Befugnisse aus Brüssel nach London zurückholen.
London blockiert den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion und lehnt grundsätzlich Doppelstrukturen von EU und Nato ab.
Nach Zugeständnissen der EU kündigt Cameron für den 23. Juni ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU an.
Bei der Volksabstimmung votieren fast 52 Prozent der Briten für den Austritt.
Zwei Szenarien
Es sind zwei Szenarien denkbar. Für die 27 anderen EU-Mitgliedstaaten dürfte sich dabei wirtschaftlich weniger ändern als für Großbritannien selbst: „Sollte Großbritannien weiterhin Zugang zum Binnenmarkt haben, muss das Land dafür die Mehrheit der EU-Binnenmarktregeln anerkennen und einhalten – ohne diese dann noch mitbestimmen zu können – und auch entsprechende Zugangsgebühren bezahlen“, so Panke. Damit könnte Großbritannien wirtschaftliche Einbußen reduzieren, hätte aber politische Handlungsbeschränkungen.
Sollte Großbritannien sich hingegen ganz von der EU lösen, würde es ein Drittstaat werden, der dementsprechend Zölle bezahlen muss, um im Binnenmarkt der EU Waren und Dienstleistungen anzubieten. „Dies verteuert die Produkte und führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Einbußen im Handelsvolumen Großbritanniens mit der EU, dämpft die britische Wirtschaft und macht Großbritannien sehr viel weniger attraktiv für ausländische Investitionen.“
Keine Probleme für Touristen
Für Touristen ändert sich wohl nichts
Wer in den kommenden Monaten in das Vereinigte Königreich reisen möchte, muss keinerlei Einschränkungen fürchten. Für die meisten EU-Länder ist anzunehmen, dass auch in Zukunft Visumfreiheit bei Reisen ins Königreich besteht. Dennoch: Es müssen Einzelfallregelungen mit jedem Land geschlossen werden. Dominic Raab, eine der führenden Pro-Brexit-Figuren, warnt: „Briten könnten künftig für Reisen nach Europa ein Visum benötigen.“ Weil Großbritannien dem Schengen-Abkommen nicht beigetreten ist, gibt es ohnehin Grenzkontrollen.
Allerdings ist davon auszugehen, dass die Briten Übergangsfristen gelten lassen. Großbritannien hatte 2004 bewusst mehr Osteuropäer ins Land gelassen als viele andere EU-Länder, weil Arbeiter benötigt wurden. Harte Regelungen nach einem Brexit könnten für einige Branchen, etwa Hotellerie oder Bau, die Arbeitskräfte knapp werden lassen. Daran hat Großbritannien, das einen riesigen Investitionsstau im Hoch- und Tiefbau hat, kein Interesse.
Preise ändern sich
Die Veränderung des Wechselkurses wirkt sich hingegen sofort aus – und zwar positiv für die Deutschen. Das britische Pfund hat am Morgen nach dem Referendum drastisch abgewertet, auf den niedrigsten Stand seit mehr als dreißig Jahren. Für Reisende bedeutet das niedrigere Preise. Im Umkehrschluss werden die Preise für Briten im EU-Ausland teurer. Hoteliers und Reiseveranstalter in bei Briten beliebten Urlaubsregionen wie der portugiesischen Algarve, den Balearen und Südfrankreich müssen sich besonders auf Einbußen einstellen.
Schwache Verhandlungsposition
Schwierig wird das diplomatische Auftreten Großbritanniens. In internationalen Verhandlungen kann die EU bislang geschlossen auftreten und klare Kante bekennen. Freihandelsabkommen, Fragen zur Regulierung des Finanzsystems – trotz interner Diskussionen zieht die EU nach außen meist an einem Strang. Denn alle Mitgliedsstaaten wissen, dass sie auf diesem Weg eine bessere Verhandlungsposition haben, als allein. Dadurch haben alle EU-Länder immense Vorteile. Großbritannien wäre durch einen Austritt auf sich gestellt und viel schwächer gegenüber starken Verhandlungspartnern wie China oder die USA. Seine Position hätte weniger Gewicht – das würde unweigerlich zu schlechteren Ergebnissen führen.
Verlierer allerorten
Autobauer vor Problemen
Mehrere deutsche Hersteller betreiben Produktionsstätten auf der Insel. Daimler und BMW lassen dort einen Teil der Motoren fertigen. Mit Rolls-Royce und Mini hat BMW zwei Töchter mit Sitz in Großbritannien und auch VW wäre über die Tochter Bentley betroffen. Sollten in Zukunft wieder Zölle auf Importe aus Großbritannien erhoben werden, hätten auch die deutschen Autobauer darunter zu leiden.
EU als großer Verlierer
Mit dem Austritt wird die Europäische Union knapp 16 Prozent ihrer Wirtschaftskraft verlieren. 12,9 Milliarden Euro überwiesen die Briten jährlich an die EU (und bekommen 5,6 Milliarden wieder raus). 13 Prozent der Arbeitnehmer und 10 Prozent der Soldaten werden dem Bündnis fehlen. Mit Großbritannien fällt der zweitgrößte Nettozahler nach Deutschland weg. Der EU-Haushalt gerät also ins Ungleichgewicht.
Ansteckung droht
Der Austritt eines EU-Mitglieds wird politische Turbulenzen in den anderen EU-Mitgliedsländern nach sich ziehen, sagt Politikwissenschaftlerin Panke: „Er kann beispielsweise Populistinnen und Populisten und Anti-EU-Parteien zu Aufwind verhelfen und so die Frage lauter werden lassen, ob man die Integration weiter vertiefen sollte und ob weitere Länder der EU beitreten sollten.“
Die Reaktionen der EU-Feinde ließen nicht lange auf sich warten. Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders wittert Morgenluft: "Die Niederländer haben auch das Recht auf ein Referendum." Und auch Marine Le Pen, die Chefin des rechtspopulistischen Front National in Frankreich twitterte nach Bekanntwerden des Ergebnisses: "Sieg der Freiheit! Wir brauchen jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und den Ländern der EU."
Vereinigtes Königreich könnte zerbrechen
Das Referendum offenbarte eine deutliche Spaltung im Vereinigten Königreich: England und Wales sprechen sich mehrheitlich für den Brexit aus, in Schottland und Nordirland aber stimmten mehr Menschen für den Verbleib. Sie stellen nun - nachdem die Schotten 2014 noch für den Verbleib im Vereinigten Königreich stimmten - erneut die Einheit Großbritanniens infrage. Nicola Sturgeon, die schottische Regierungschefin kommentierte nach der Auszählung, das Ergebnis "zeige, dass das schottische Volk seine Zukunft als Teil der Europäischen Union sieht".
Die irisch-nationalistische Partei Sinn Fein fordert bereits eine Abstimmung über eine Vereinigung der Republik Irland mit dem zum Vereinigten Königreich gehörigen Nordirland. "Die britische Regierung hat (...) jedes Mandat, die Interessen der Menschen in Nordirland zu repräsentieren, verloren", zitierte die "Irish Times" den Sinn-Fein-Vorsitzenden Declan Kearney.