Die Unterhändler hatten längst aufgehört, die gerissenen Deadlines zu zählen. Im Laufe der Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien hat London so oft Fristen verstreichen lassen, dass die Europäer nur noch mit Humor reagieren konnten. „Die verpassten Fristen wurden zum Running Gag“, erzählt ein EU-Diplomat über das Spiel mit vermeintlichen Enddaten, das nach dem Durchbruch vom Donnerstag ein Ende hat.
Kurz vor Jahresende – und wieder einmal später als erwartet – gelang am Heiligabend um 14.44 Uhr die lange ersehnte Einigung zu einem Handelsdeal zwischen EU und Großbritannien. Spätestens nach der Sommerpause im September waren sich die Europäer sicher, dass der britische Premierminister Boris Johnson einen Deal wollte – trotz des öffentlichen Getöses, das immer wieder in eine andere Richtung deutete. Aber selbst als am Dienstagabend ein Durchbruch zum Greifen nahe schien, dauerte es nicht nur eine Nacht, sondern noch bis zum folgenden Nachmittag, bis beide Seiten eine Einigung verkünden konnten. „Es hat sich gelohnt für dieses Abkommen zu kämpfen“, sagte eine sichtlich erleichterte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Für die EU lassen sich aus dem zähen Ringen drei Lehren ziehen:
1. Lehre: Die Einheit der EU hat bis zum Schluss gehalten – und sich bezahlt gemacht
Es war einer der größten Irrtümer von Premier Johnson anzunehmen, dass sich die 27 EU-Staaten beim Thema Brexit auseinander dividieren lassen könnten. Schon bei den Austrittsverhandlungen war diese Taktik nicht aufgegangen wie Johnsons Vorgängerin Theresa May feststellen musste. Im Frühstadium der Verhandlungen war ihr damaliger Chefunterhändler nach Berlin gereist und hatte versucht, die deutschen Automobilhersteller auf die britische Seite zu ziehen. Das schlug fehl. Johnson wollte Mitte Dezember noch in Gesprächen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Einheit der Europäer brechen. Beide lehnten die Unterhaltungen kühl ab und verwiesen darauf, dass nicht sie verhandelten, sondern die EU-Kommission in Brüssel für alle 27 EU-Staaten gemeinsam.
Die Einheit war ungewöhnlich, denn zumeist lassen divergierende Interessen die Mitgliedsstaaten unterschiedliche Positionen einnehmen. So zeigt sich bei den aktuellen Verhandlungen zwischen EU und China, dass die Mitgliedsstaaten Menschenrechte und Wirtschaftsinteressen unterschiedlich gewichten. Im Falle des Brexits hatten die EU-Mitgliedsstaaten früh verstanden, dass sie mit einem einheitlichen Auftreten gewinnen konnten. Die 27 EU-Mitgliedsstaaten waren sich von Anfang an auch einig, dass ein Mitgliedsstaat wie Irland mehr Solidarität verdiente als ein scheidender Partner.
Der Fall Brexit sollte den EU-Mitgliedsstaaten vor Augen führen, wie stark sie in der gesamten Welt auftreten können – wenn sie einig agieren.
2. Lehre: Großbritannien ist der Verlierer der Verhandlungen – für die EU hält sich der Verlust in Grenzen
Noch hat kaum jemand die 2000 Seiten des Verhandlungstext gelesen, der die ein oder andere Stolperfalle enthalten könnte. Aber die großen Linien des Abkommens zeigen schon jetzt, dass Großbritannien nicht als Sieger aus dem Deal hervorgeht. Auch wenn ab dem 1. Januar keine Zölle auf britische Ware in der EU fällig werden, so wird sich der Handel doch erschweren. Zollformalitäten werden den Warenaustausch verlangsamen und verteuern. Für Fluglinien wird das Verlassen des Binnenmarkts ebenso Nachteile bringen wie für Frachtunternehmen. Und für Bürger werden Nachtteile entstehen, die bisher den Mehrwert der EU anschaulich illustriert haben. Britische Urlauber werden künftig in der EU Roaming-Kosten bezahlen müssen, wenn sie mit ihrem Handy telefonieren oder surfen. Britische Studenten können nicht mehr am beliebten Erasmus-Austauschprogramm teilnehmen.
Der Brexit-Prozess hat zu viele Ressourcen geschluckt, als dass sich die EU zum Gewinner erklären könnte. Relativ gesehen verändert sich für die Gemeinschaft durch den Verlust eines Mitgliedsstaat aber weitaus weniger als für Großbritannien durch den Austritt. Während 2016 der Schock in Brüssel noch groß war, dass ein Mitgliedsland austreten wolle, hat sich das Ereignis nun relativiert. Nachdem viele in Brüssel das Verhandlungsverhalten der Briten bis zum letzten Moment befremdlich fanden, ist die Bereitschaft, diese ziehen zu lassen, erheblich gewachsen.
3. Lehre: Der Anreiz für andere EU-Länder, dem britischen Vorbild zu folgen, ist gering
Kurz nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien herrschte in Brüssel Angst, dass andere Länder dem britischen Beispiel folgen könnten und ebenfalls die EU verlassen würden. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Der Brexit entwickelte sich zum abschreckenden Beispiel. Selbst in EU-skeptischen Staaten wie Polen und Ungarn steht ein Austritt aus der EU nicht ernsthaft zur Debatte. Bisher zeichnet sich nicht ab, dass Großbritannien von der so gerne zitierten wiedergewonnen Souveränität profitieren wird.
Die Coronakrise birgt dagegen für die EU die Chance, ihren Mehrwert unter Beweis zu stellen. Großbritannien hat zwar früher mit der Impfung gegen Covid-19 begonnen, doch eine Arzneimittelbehörde, die für 27 Mitgliedsstaaten die Neuzulassung von Medikamenten prüft, birgt ein großes Potenzial für Effizienzgewinne. Bei ihren gemeinsamen Einkäufen von Impfstoff hat die EU-Kommission zudem einen besseren Preis erzielt als ein einzelnes Land wie Großbritannien.
Zurecht hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesagt, es sei für die EU nun Zeit, den Brexit hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen. Echten Mehrwert zu schaffen wird dabei die Kernherausforderung sein.
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