Europas Zukunft Wo bleibt Ihre Antwort auf Präsident Macron, Herr Bundeskanzler?

Emmanuel Macron und Olaf Scholz in Brüssel Quelle: REUTERS

Das deutsch-französische Verhältnis lahmt bedenklich. Mit seiner neuen Sorbonne-Rede hat Präsident Macron ein leidenschaftliches Plädoyer für ein starkes Europa geliefert. Kanzler Scholz sollte seiner Aufforderung folgen. Ein Gastbeitrag.

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Aufwachen, Europa. Die Rede, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag an der Pariser Universität Sorbonne gehalten hat, war eine der wichtigsten Grundsatzreden zu Europa der letzten 70 Jahre. Und zum richtigen Zeitpunkt: Die Europawahl steht bevor, die Ukraine gerät im russischen Angriffskrieg immer weiter unter Druck, Konfrontationen mit der Weltmacht China nehmen zu, eine Wiederwahl von Donalds Trump im Herbst ist denkbar, der Rechtspopulismus wächst, drängende klimapolitische Fragen bleiben unbeantwortet – Europa scheint bei zentralen Innovationsthemen global abgehängt.

Und vor allem: Das deutsch-französische Verhältnis lahmt bedenklich – Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bleibt nur noch wenig Zeit, um vor dem Bundestagswahlkampf 2025 zupackend ein handlungsfähiges Europa mitzugestalten. Wann, wenn nicht jetzt, braucht es ein leidenschaftliches Plädoyer für ein „Europa der Stärke, des Wohlstands und des Humanismus“. Macron hat geliefert. Und niemand anderes hätte es jetzt besser machen können.

„1000 Milliarden Euro pro Jahr“ für Investitionen

Die Botschaft ist ernüchternd, alarmierend, einfach: Unser Europa heute kann sterben. Und das hängt allein von unseren Entscheidungen ab. Macron macht eine Vielzahl relevanter Vorschläge, etwa zum Aufbau glaubwürdiger europäischer Verteidigungskapazitäten, einem Pakt für Wohlstand, „1000 Milliarden Euro pro Jahr“ für Investitionen in die fünf Zukunftssektoren künstliche Intelligenz, Quanteninformatik, Raumfahrt, Biotechnologie und neue Energien. Und sogar der demokratiegefährdenden Wirkung des „virtuellen Raums“ möchte er die Stirn zeigen.

Quelle: Privat

Zur Person

Entscheidend in dieser Rede waren aber nicht diese essenziellen Initiativen. Das europäische Schlamassel ist hinlänglich bekannt. Wesentlich ist die Haltung des französischen Präsidenten: und das ist eine der radikalen Dringlichkeit, Entschlossenheit, Courage. Macron wählt drastische Worte. Das mag einige Partner und Kommentatoren verstören. Aber es ist richtig.

Mit ökonomisch weichen Knien im prunkvollen Saal

Ja, Macron redet manchmal viel und lang, so kommentieren manch deutsche Journalisten berechenbar und herablassend. Und seiner Konsistenz und unantastbaren Glaubwürdigkeit hat er wahrlich keinen Gefallen getan mit seiner verirrten Russlandpolitik, einem unzureichenden Engagement für die Ukraine und er steht ökonomisch mit weichen Knien im prunkvollen Saal der Sorbonne einen Tag bevor Ratingagenturen drohen die Kreditwürdigkeit Frankreichs herabzustufen.

Aber in einer Phase europäischer Geschichte, in der es für Europa nie wichtiger gewesen war Stärke, Einigkeit und Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, ist es eben dieser Macron, der den Mut und die normative Klarheit hat eine überfällige und auch nachdenkliche Rede an Europa zu halten. Es ist mehr als ein Weckruf. Es ist ein leidenschaftlicher Schrei nach Leben des „europäischen Projektes“.

Die EU ist eine Frage von Krieg und Frieden

Weil eben jetzt der Moment da ist, der seit Jahrzehnten als Kern der europäischen Erzählung angemahnt wird: die EU ist eine Frage von Krieg und Frieden. Und in genau diesem Moment wirkt Europa leer, müde, unklar. Europa, ein Ort normativer Obdachlosigkeit. Macron bäumt sich dagegen auf und traut sich den ganz großen Bogen zu spannen: das Fundament der europäischen Idee ist der Humanismus, verbunden mit einem radikalen Bekenntnis zur Freiheit.

Nach sieben Jahren ist er an die Sorbonne zurückgekehrt, um einen letzten Versuch zu wagen dem europäischen Projekt eine visionäre und gleichzeitig selbstbewusste Kraft zu verleihen. Die Analysen seiner ersten Sorbonne-Rede 2017 und sein damaliges Plädoyer für mehr europäische Souveränität – ein „Europa der Verteidigung“ - waren scharfsinnig und treffend. Und überforderten damals die europäischen Partner.

Macron hat jetzt das richtige Gespür den Bogen

Macron hat jetzt das richtige Gespür den Bogen weiter zu spannen und die aktuellen Herausforderungen zu adressieren: Europas Sicherheit, Wohlstand und Werte sind massiv gefährdet. Er spricht über Europas Verletzlichkeit und Schwäche in einer bedrohlichen Welt. Angenehm ist das nicht. Aber Macron hat erkannt, dass es jetzt vor allem um den unbedingten Willen geht diese Herausforderungen schnell und selbstbewusst anzunehmen und Lösungen zu erarbeiten.

Es liegt nur an uns, ob wir den Mut und auch die dazu nötige Selbstreflektion aufbringen, Verantwortung zu übernehmen für unsere Zukunft in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Um so die „strategische Unmündigkeit“ zu überwinden. Das deutsch-französische Verhältnis erwähnt Macron – eher brav – an einigen Stellen. Immerhin. Das ist gut, aber nicht genug. Er scheint den Glauben verloren zu haben an die Gestaltungkraft dieser Freundschaft, wenn er über Europa redet.

„Motor“ und Magie des europäischen Integrationsprozesses

Dass wir an diesen Punkt gekommen sind, ist beschämend, fahrlässig und historisch bedenklich. Denn über Jahrzehnte war der „Motor“ und die Magie des europäischen Integrationsprozesses immer, dass eine vertrauensvolle und mühsam errungene Einigung zwischen so unterschiedlichen Ländern wie Deutschland und Frankreich eine gute und belastbare Grundlage ist, um den Rest der Union auf ein gemeinsames Ziel zu verpflichten. Einfach war das nie, massive Unterschiede bei wirtschaftspolitischen oder geostrategischen Zielvorstellungen gab es immer.

Zuletzt gab es Streit auf offener Bühne

Aber was jetzt fehlt ist die Zugewandtheit, eine wohlwollende Gelassenheit, eine Zärtlichkeit für das Gegenüber. Und die Weitsicht und Bereitschaft viel Arbeit und Willen zu investieren, um das andere Land zu verstehen, zu respektieren und auf dieser Grundlage einen gemeinsamen Plan für ein starkes Europa vorzulegen. Was wir zuletzt erlebt haben, war Streit auf offener Bühne. Und dies ist ein Vergehen an der europäischen Idee, die heute mehr als je zuvor gefragt ist, um drängende Probleme in Einigkeit und Entschlossenheit zu lösen.

Die Schnelligkeit und Klarheit der Reaktion von Bundeskanzler Scholz auf die Rede Macrons war gestern ein wohltuender Unterschied zur Stille Angela Merkels 2017 nach Macrons letzter Sorbonne-Rede. Aber auch Scholz bezeichnet Macrons europapolitischen Wurf schlicht als „Impuls“. Es wirkt wieder wie eine semantische Verkrampfung Deutschlands. Das ist kein „Impuls“. Es ist vielmehr. Es ist die drängende und kraftvoll hergeleitete Aufforderung an uns, Deutschland, in dieser bedrohlichen Zeit ein starkes, mitreißendes und handlungsfähiges Europa zu bauen.

Kokettieren mit „strategischer Ambiguität“

Macrons unmissverständlicher Wunsch nach einer Abnabelung von den USA wird diesen Schritt für Scholz derzeit nicht leichter machen. Genauso wie seine „conditio sine qua non“, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt. Und von seinem – übrigens rational nachvollziehbaren - Kokettieren mit „strategischer Ambiguität“ im Kontext von der Entsendung von Bodentruppen ganz zu schweigen.

Diese massiven Interessenskonflikte zwischen Deutschland und Frankreich gab es immer. Sie sind jetzt nur mehr im Scheinwerferlicht aufgrund einer massiven Bedrohung unserer Freiheit und Sicherheit durch ein autoritäres und aggressives Russland. Umso wichtiger ist es nun, dass es keinen Zweifel geben darf an dem unbedingten Willen Deutschlands und Frankreichs Differenzen auszuhalten, aufzulösen und einen gemeinsamen Plan für die Zukunft Europas vorzustellen.

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Macron endet seine Rede mit einer Hommage an unseren „zerbrechlichen“ Humanismus, das Europa der Kaffee-Häuser, den europäischen Selbstzweifel, an unsere einzigartige und andersartige Beziehung zu Freiheit und Gerechtigkeit, unsere Verpflichtung den europäischen Geist an zukünftige Generationen weiterzugeben. Das ist im Kern eine essenzielle Rückbesinnung auf unser Fundament als Europäer. Ein unverwechselbarer Ausgangspunkt, um mit Stärke, Selbstbewusstsein und humanistischer Gesinnung als geeintes Europa die Welt von Morgen zu gestalten.

Danke, Monsieur le President. Herr Bundeskanzler, wir sind gespannt auf Ihre Antwort.

Lesen Sie auch: Fast sieben Jahre nach seinem Europa-Diskurs an der Sorbonne redet Frankreichs Staatschef seinen Partnern erneut ins Gewissen. Und will ihnen an den Geldbeutel.

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