Verteidigungsstrategie Europa, ein Hundewelpe unter Wölfen

Nicht nur der Zwist zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz zeigt: Europa ist noch immer der Hundewelpe unter Wölfen. Quelle: imago images

Die jetzt in Brüssel vorgestellte EU-Strategie für die Verteidigungsindustrie ist richtig und überfällig. Dennoch sind die Europäer den brutalen Bedürfnissen des Krieges bis heute nicht gewachsen. Ein Kommentar.

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Die Suwalki-Lücke ist ein gerade mal 65 Kilometer langer Grenzkorridor zwischen Litauen und Polen: militärisch gesehen kaum mehr als ein Sprung, der die russische Exklave Kaliningrad von Belarus trennt. Es ist diese hochsensible Geografie, die dazu führt, dass der Streifen eine große, eine problematische Rolle in Nato-Szenarien spielt.

Entlang dieser Grenze versorgt Russland per Zug seinen Ostsee-Vorposten, in dem atomwaffenfähige Mittelstreckenraketen stationiert sind. Immer wieder beklagt die russische Seite, dass Lieferungen dorthin behindert oder verzögert werden. Sollte Wladimir Putin eines Tages die Entschlossenheit der Nato wirklich testen wollen, könnte er es genau hier versuchen – begründet mit einer wie auch immer gearteten Bedrohung Kaliningrads. Die Suwalki-Lücke wäre dann aus dem kremltreuen Vasallenstaat Belarus schnell attackiert, Nato-Territorium leicht verletzt.

Wie würde die westliche Allianz darauf reagieren? Würde sie tatsächlich umgehend jeden Quadratmeter des Bündnisgebiets verteidigen – mit einer scharfen militärischen Reaktion, mit auffahrenden Panzern und Truppen, wohl wissend um die möglichen Eskalationsgefahren? Und: Wie bald ist „eines Tages“?

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von Sonja Álvarez

Dass es auf diese Fragen womöglich keine beruhigenden Antworten gibt, ist genau das Problem. Noch ungemütlicher wird es, wenn man sich dieses Szenario nach dem 6. November 2024 und einer Wiederwahl Donald Trumps vorstellt. Wie viel Abschreckungswille und -wirklichkeit dann noch in der Nato, der heute mächtigsten Militärallianz der Welt, stecken würde – keiner weiß es.

Womit wir bei Olaf Scholz, Emmanuel Macron und der Europäischen Union wären. Wie groß der Druck von außen noch werden muss, damit aus dem Kohlenstaub Europas ein geopolitischer Rohdiamant entsteht – auch hier gilt: Keiner weiß es.

Die vergangenen Tage und Wochen jedenfalls lassen wenig Raum für Optimismus. Zusammengenommen war zuletzt eine bittere Vorstellung europäischer Kriegsuntüchtigkeit zu besichtigen. Der Kanzler rügte zunächst öffentlich die mangelnde Unterstützung für die Ukraine – und meinte wenig verklausuliert vor allem Paris. Frankreichs Präsident revanchierte sich mit Häme über die anfangs so zögerlichen Helmlieferanten aus Berlin und einer unausgegorenen Bodentruppen-Debatte, die alles war, aber eben keine kluge, strategische Ambiguität. In Sachen Taurus schließlich taumelt Scholz von kommunikativ-diplomatischen Desastern nahtlos in Spionage-Peinlichkeiten hinein.

Die Europäer stammen von der Venus. Sie beherrschen nicht die Sprache der Macht. Diese Befunde sind allesamt alt, aber leider immer noch zutreffend. Auch zwei Jahre brutalster Krieg an der Südostflanke des Kontinents haben wohl nicht gereicht, um den Ernst der Lage so unerträglich werden zu lassen, dass Europa mit einer Stimme spricht, aus einem Guss handelt und in der Lage wäre, seine Interessen ebenso geschlossen wie robust zu vertreten.

Die dröhnende Funkstille zwischen Macron und Scholz, die Taurus-Debatte, die dürftigen Ukrainehilfen, das unproduktive Nachdenken über einen europäischen Atomschirm – um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen –, das alles zeigt: Europa ist noch immer der Hundewelpe unter Wölfen.

Da hilft auch die an diesem Dienstag in Brüssel vorgestellte EU-Strategie für die Verteidigungsindustrie wenig. Viele der darin präsentierten Ideen und Maßnahmen, etwa eine gemeinsame Beschaffung und Rüstungsproduktion, überhaupt die bessere Bündelung von Ressourcen, sind richtig, wichtig und überfällig. Sie bleiben bloß Werkzeuge der Ohnmacht, wenn Regierungschefs wie Scholz und Macron gemeinsam mit der EU-Kommission davon nicht entschlossen Gebrauch machen.

Und bisher sieht es nicht danach aus. Wie kraftvoll hätte eine Ausstattungsoffensive für die Ukraine aussehen können, wenn Deutschland, Frankreich und Großbritannien untergehakt Marschflugkörper geliefert, wenn Macron und Scholz auf einer Rheinbrücke gemeinsam mir Wolodymyr Selenskyj Sicherheitsgarantien unterzeichnet hätten. Oder wenn das Weimarer Dreieck mit Polen mehr wäre als ein müder Abglanz vergangener Tage.

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Es sind also zweifelsohne historische Zeiten. Und ohne Zweifel sind die Europäer den historischen Herausforderungen bisher nicht gewachsen.

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