Geldpolitik Vorsicht vor zu schnellen Zinssenkungen!

Christine Lagarde bei der Pressekonferenz der Europäischen Zentralbank nach der EZB-Ratssitzung in Frankfurt am Main Quelle: imago images

Die EZB signalisiert eine erste Zinssenkung für Juni. Doch die Risiken für die Preisstabilität nehmen zu. Die Notenbanker sollten deshalb noch einmal in sich gehen, bevor sie die Leitzinsen verfrüht senken. Ein Kommentar.

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Der Countdown läuft. Knapp zwei Monate noch, dann wird die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins – wenn nichts Unvorhergesehenes passiert – senken. Das ist die Botschaft, die Christine Lagarde, Chefin der EZB, nach der Sitzung des EZB-Rats am Donnerstag der Öffentlichkeit vermittelt hat. Eine große Überraschung ist das nicht. Seit Wochen wetten die Teilnehmer an den Finanzmärkten darauf, dass die Frankfurter Notenbanker im Juni den Abstieg vom Zinsgipfel einleiten. 

In der Tat scheint auf den ersten Blick alles für eine Lockerung der Geldpolitik zu sprechen. Die Inflationsrate in der Währungsunion hat sich seit ihrem Rekordhoch von 10,6 Prozent im Oktober 2022 auf zuletzt 2,4 Prozent verringert und nimmt damit Kurs auf den Zielwert der EZB von 2,0 Prozent. Auch die Kernrate (ohne Energie und Nahrungsmittel) befindet sich im Sinkflug, wenn auch nicht so deutlich wie die Gesamtrate. Im März lag sie bei 2,9 Prozent. 

Zudem tritt die Konjunktur auf der Stelle, die Wirtschaftsleistung in der Eurozone stagnierte im vierten Quartal vergangenen Jahres. Daran dürfte sich Analystenschätzungen zufolge zumindest in der ersten Hälfte dieses Jahres nichts ändern. Ein Schub von Seiten der Geldpolitik kann da nicht schaden, könnte man meinen. 

Risiken für Preisstabilität

Doch Vorsicht! Die Argumente für eine zeitnahe Zinssenkung sind keineswegs so eindeutig, wie sie scheinen. Erstens hat die Teuerungsrate ihren Abwärtstrend in erster Linie dem abflauenden Preistauftrieb für Industriewaren zu verdanken. Das weltweite Warenangebot hat sich dank der wiederhergestellten Lieferketten verbessert und die Preise unter Druck gesetzt. Anders sieht es hingegen bei den Dienstleistungen aus, wo der Wettbewerb durch den internationalen Handel weniger stark ausgeprägt ist. Dort verfügen die Unternehmen über größere Spielräume, die Preise anzuheben. So legten die Preise für Dienstleistungen im März um 4,0 Prozent zu. 

Zweitens dürfte der Aufwärtstrend bei den Preisen für Dienstleistungen noch längst nicht zu Ende sein. Denn die Lohnstückkosten, die wichtigste Kostengröße für Dienstleistungen, befinden sich weiter im Aufwind. Der Grund dafür ist das Zusammenwirken hoher Lohnabschlüsse mit schrumpfender Produktivität. Während die Tariflöhne in der Eurozone im vierten Quartal vergangenen Jahres um 4,5 Prozent zulegten, schrumpfte das BIP je Arbeitsstunde um 1,2 Prozent. Die Lohnstückkosten schnellten dadurch um 5,7 Prozent in die Höhe. Senkt die EZB die Zinsen und kurbelt die Konjunktur an, steigt der Spielraum für die Unternehmen, die höheren Lohnstückkosten in den Preisen an die Kunden weiterzureichen. 

Drittens verdichten sich die Zeichen, dass die US-Notenbank Fed angesichts der kräftigen Konjunktur und der wieder anziehenden Teuerungsraten jenseits des Atlantiks die Leitzinsen, anders als bis vor kurzem gemeinhin erwartet, vorerst nicht senken wird. Schreitet die EZB im Juni zur Tat und senkt die Euro-Leitzinsen, vergrößert sich der Zinsvorsprung Amerikas. Das dürfte den Dollar stärken und die Importe der Eurozone aus dem Dollarraum verteuern. Der Inflationsimport könnte in der Eurozone eine zweite Inflationswelle auslösen. 

Viertens haben sich die geopolitischen Rahmenbedingungen für die Energiepreise in den vergangenen Wochen verschlechtert. Die Sorge vor einer Eskalation der kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten bei gleichzeitig hoher Förderdisziplin Saudi-Arabiens und Russlands haben den Preis für Öl der Sorte Brent seit Jahresbeginn um 18 Prozent auf zuletzt rund 90 Dollar je Fass steigen lassen. Der Kostenschub dürfte sich in den nächsten Monaten durch die Wertschöpfungsketten fressen und für zusätzlichen Aufwärtsdruck auf die Preise sorgen.

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Die Notenbanker der EZB sollten daher noch einmal in sich gehen, bevor sie vorschnell auf Druck der hochverschuldeten Südländer im Juni die Zinsen nach unten schleusen. Sie könnten andernfalls gezwungen sein, den Schritt schon bald wieder rückgängig zu machen. Das aber wäre der GAU für das Renommee der EZB.

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