Monatelang hatten die Bürger hierzulande verzichtet: auf den Restaurantbesuch, den Kneipenbummel, auf Reisen und auf ausgedehnte Shoppingtouren. Doch nun scheinen sie nachzuholen, was sie vermisst hatten. Die Restaurants sind voll, die Außengastronomie boomt (so weit es das Wetter zulässt), die Menschen verreisen, gehen in Konzerte und lassen im Einzelhandel die Kassen klingeln.
Wie groß der Nachholbedarf der Konsumenten ist, zeigen die Daten der Reservierungs-App Open Table. Seit Anfang Juni sind die Restaurant-Besuche am Abend kräftig gestiegen, in der vergangenen Woche lagen sie im Sieben-Tage-Durchschnitt um 46 Prozent höher als vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2019. Anfang Mai hatten sie ihr Vorkrisenniveau noch um 97 Prozent unterschritten.
Auch die Einzelhändler haben Grund zur Freude. Seit Mitte Juli strömen mehr Menschen in die Geschäfte als vor dem Ausbruch der Pandemie Anfang 2020. In der vergangenen Woche lag das Plus bei 3,3 Prozent. Wie rasant die Erholung bisher verlaufen ist, zeigt ein Vergleich mit Anfang Mai, als die Einzelhändler noch rund 35 Prozent weniger Kundschaft verzeichneten als vor der Pandemie. Anfang Januar lag das Minus sogar bei 60 Prozent.
Steigende Inzidenzen drücken die Stimmung
Ob sich die Erholung in den nächsten Wochen und Monaten fortsetzt, ist allerdings unsicher. Der Grund dafür ist die Ausbreitung der Delta-Variante des Corona-Virus. Nachdem die Anzahl der Inzidenzen zunächst in Nachbarländern wie Frankreich und den Niederlanden in die Höhe schoss, gehen die Zahlen jetzt auch in Deutschland nach oben. Virologen warnen bereits vor einer neuen Welle im Herbst und Winter, zumal die Impfbereitschaft der Menschen nachlässt.
Die Aussicht auf neuerliche Lockdown-Maßnahmen belastet die Stimmung der Unternehmen. Zum ersten Mal seit Jahresbeginn hat der vom Münchner ifo Institut ermittelte Geschäftsklimaindex für die deutsche Wirtschaft im Juli nachgegeben. Mit Ausnahme der Bauwirtschaft trübte sich das Geschäftsklima in allen Wirtschaftsbereichen ein. Neben den Lieferengpässen bei Vorprodukten seien dafür die „Sorgen um wieder steigende Infektionszahlen“ ausschlaggebend, urteilten die Ökonomen des ifo Instituts.
Gut möglich also, dass die Wachstumsrate der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Sommerhalbjahr bereits ihren Höhepunkt erreicht und die Konjunktur im Winter einen Dämpfer erhält. Die meisten Analysten rechnen für das zweite Quartal mit einer Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts von zwei bis 2,5 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Damit dürfte die Bruttowertschöpfung der Gesamtwirtschaft allerdings immer noch um mehr als 2,5 Prozent unter ihrem Niveau vor der Pandemie liegen, haben die Analysten der Commerzbank ermittelt.
Die EZB sorgt sich um die Schuldenländer
Auch die Notenbanker blicken vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Delta-Variante skeptischer auf die Konjunktur. Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) erklärte im Anschluss an die Sitzung des EZB-Rats in der vergangenen Woche, die Delta-Variante habe das Potenzial, den Aufschwung zu bremsen. Verlangsame sich die Konjunktur, drohe den Staatshaushalten und den Banken Ungemach, warnte Lagarde. Hinter der vordergründigen Sorge um die Konjunktur steckt offenbar die Angst der EZB um die Solvabilität der Staaten und Banken.
Sollte die Wirtschaft mehrere Gänge zurückschalten oder gar einbrechen, schnellten die Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt in die Höhe und die Banken wären mit zunehmenden Kreditausfällen konfrontiert. Die ohnehin geringe Hoffnung, dass hochverschuldete Länder wie Italien, Griechenland, Frankreich und Portugal sich in absehbarer Zeit ohne die massive Unterstützung der EZB wieder zu tragbaren Zinsen finanzieren können, löste sich endgültig in Luft auf. Sollte die Delta-Variante die Konjunktur ausbremsen, dürfte die EZB daher umso länger und stärker auf das Gaspedal treten.
Der Druck auf die Fed steigt
In den USA ist vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Corona-Variante ebenfalls kein schneller geldpolitischer Kurswechsel in Sicht. Analysten gehen davon aus, dass die Notenbank Fed auf ihrer Sitzung heute den Leitzinskorridor bei 0,0 bis 0,25 Prozent belassen und vorerst weiter Anleihen im Umfang von 120 Milliarden Dollar monatlich kaufen wird. Allerdings hat der Druck auf die Notenbank zugenommen, die Geldpolitik in absehbarer Zeit weniger locker zu handhaben. Im Juni kletterte die Inflationsrate auf 5,4 Prozent. Das ist der höchste Wert seit Ausbruch der Finanzkrise. Die Kernrate der Inflation (ohne Energie- und Nahrungsmittelpreise) erreichte mit 4,5 Prozent sogar das höchste Niveau seit 30 Jahren.
Noch geht die Fed davon aus, dass es sich bei dem Inflationsschub um ein vorübergehendes Phänomen im Gefolge der Corona-Pandemie handelt, das keinen geldpolitischen Kurswechsel erfordert. Doch der zunehmende Lohndruck könnte die Inflation länger hochhalten als die Fed erwartet. Die Notenbank um ihren Chef Jerome Powell dürfte daher auf ihrer heutigen Sitzung zumindest über die Reduzierung der Anleihekäufe diskutieren.
In jedem Fall werden die Notenbanker alles unternehmen, um die Finanzmärkte schonend auf einen geldpolitischen Kurswechsel vorzubereiten, sollten sie zu der Schlussfolgerung kommen, dass dieser nötig ist. Beobachter gehen davon aus, dass die Fed die Märkte im Herbst auf eine mögliche Entscheidung zur Rückführung der Anleihekäufe zum Jahresende vorbereiten wird.
Bei der EZB ist von einem Exit dagegen noch lange keine Rede. Im Gegenteil. Im EZB-Rat habe es noch nicht einmal eine Diskussion über eine Rückführung der Anleihekäufe gegeben, sagte Lagarde nach der jüngsten Sitzung der Notenbanker. Nicht wenige Beobachter rechnen damit, dass die EZB ihre Anleihekäufe im Laufe der nächsten Monate sogar noch aufstockt. So wies Lagarde darauf hin, dass das Pandemieprogramm dazu diene, für weiterhin günstige Finanzierungsbedingungen zu sorgen. Im Klartext: Die Südländer des Euroraums sollen weiter die Möglichkeit haben, sich zu niedrigen Zinsen zu verschulden.
Anders als die Fed kann sich die EZB einen weniger expansiven Kurs nicht leisten, weil ihr sonst die Währungsunion um die Ohren fliegt. Zwischen Amerika und Europa dürfte sich daher in den nächsten Quartalen eine geldpolitische Kluft auftun. Sie könnte den Euro im Verhältnis zum Dollar immer mehr zur Weichwährung werden lassen.
Mehr zum Thema: Der US-Ökonom John Cochrane warnt: Die amerikanische Notenbank ist kaum mehr in der Lage, die Zinsen kräftig zu erhöhen. Sie sollte Abstand von der Idee nehmen, das Preisniveau jährlich um zwei Prozent zu steigern – und für stabile Preise sorgen.