WiWo-Konjunkturradar Auf dem Weg in die Stagflation: Deutsche Wirtschaft in Bedrängnis

Die Aussichten der europäischen und auch der deutschen Wirtschaft sind angesichts des Kriegs in der Ukraine ungewiss. Quelle: dpa

Die niedrigere Wachstumsdynamik in der EU trifft die exportorientierte deutsche Wirtschaft ebenso wie die anhaltende Schwäche Chinas. Das Wachstum dürfte im zweiten Quartal sinken, sagt ein neuer Indikator.

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Wer bietet weniger? Bei der Frage, wie viel Wohlstand uns ein Gasstopp aus Russland kosten würde, ist sich die Ökonomenzunft nicht einig. Eine besonders alarmistische Schätzung kommt jetzt vom Mannheimer Makroökonom Tom Krebs: In einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung warnt Krebs, dass ein abruptes Embargo die deutsche Wirtschaftsleistung innerhalb der ersten zwölf Monate um bis zu zwölf Prozent einbrechen lassen könnte.

Doch selbst wenn eine Gaskrise ausbleibt, sind die Perspektiven für die Konjunktur wenig erbaulich. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal nur um mickrige 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal gestiegen war, dürfte es zwischen April und Juni sogar in den roten Bereich rutschen. Der vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) exklusiv für die WirtschaftsWoche erstellte BIP-Flash-Indikator signalisiert ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um 0,1 Prozent. In den Frühindikator gehen rund 160 Einzelwerte ein.

„Die Mischung aus Lieferkettenproblemen, Sanktionen und Inflation bringt die deutsche Wirtschaft in Bedrängnis“, analysiert IWH-Vizepräsident Oliver Holtemöller. Und solange diese Probleme nicht gelöst seien, „besteht die Gefahr, dass die deutsche Wirtschaft in eine Stagflation rutscht“. Auch im dritten Quartal des Jahres wartet demnach kein Konjunkturfeuerwerk auf die Deutschen: Der IWH-Indikator sagt dann einen BIP-Zuwachs von gerade mal 0,2 Prozent voraus.

Zumal die Konjunktur in ganz Europa nur noch schleppend läuft. Die EU-Kommission hat jetzt ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr von 4,0 auf 2,7 Prozent nach unten revidiert. 2023 rechnet Brüssel nunmehr mit einem Plus von 2,3 Prozent (zuvor: 2,8 Prozent).

Die niedrigere Wachstumsdynamik in der EU trifft die exportorientierte deutsche Wirtschaft ebenso wie die anhaltende Schwäche Chinas. In China, dem nach den USA wichtigsten Exportmarkt Deutschlands, treten die ökonomischen Kollateralschäden der rigiden Null-Covid-Strategie immer deutlicher zutage. Die Produktion schrumpfte im Mai um 2,9 Prozent gegenüber dem Vormonat, die Umsätze im Einzelhandel brachen um 11,1 Prozent ein. Viele Ökonomen rechnen nun damit, dass Peking das für 2022 ausgegebene Wachstumsziel von 5,5 Prozent nicht erreicht – was auch die Nachfrage nach deutschen Gütern dämpfen würde. 

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Zugleich bleibt in Deutschland der Inflationsdruck extrem hoch. Im April kletterte die Teuerungsrate in Deutschland auf 7,4 Prozent, das ist der höchste Stand seit gut 40 Jahren. Wenn das Statistische Bundesamt am 30. Mai eine erste Inflationsschätzung für diesen Monat abgibt, rechnet kaum ein Analyst mit Entspannungssignalen.

Hier die IWH-Analyse für die WirtschaftsWoche im Originaltext:

„Der Rückgang der Wirtschaftsleistung im vierten Quartal 2021 konnte trotz eines Zuwachses im ersten Quartal 2022 noch nicht wieder ausgeglichen werden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg nur leicht um 0,2 Prozent, allerdings dürfte die geringe Dynamik vorrangig pandemiebedingt sein. Die Folgen der kriegsbedingten Sanktionen dürften erst ab dem zweiten Quartal spürbar werden. Hinzu kommen erneute harte Lockdowns in China, welche die Lieferkettenprobleme verschärfen und den weltweiten Inflationsdruck hochhalten werden. Beide Faktoren treffen die deutsche Wirtschaft hart – und somit dürfte in den nächsten beiden Quartalen kaum mehr als eine Stagnation zu erwarten sein. Insgesamt wird die Wirtschaft in Deutschland laut IWH-Flash-Indikator im zweiten Quartal 2022 um knapp 0,1 Prozent zurückgehen und im dritten Quartal 2022 um 0,2 Prozent steigen.

Im ersten Quartal trugen höhere Investitionen dazu bei, dass das BIP um 0,2 Prozent zulegte. Der schwache Außenhandel dämpfte hingegen das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die Lieferengpässe und die damit verbundene hohe Inflation sowie die Corona-Restriktionen, die in Deutschland erst am Ende des ersten Quartals deutlich gelockert wurden, bremsten eine kräftigere wirtschaftliche Erholung. Der Krieg in der Ukraine und die umfangreichen von westlicher Seite gegen Russland beschlossenen Sanktionen verschärfen die Situation nochmals deutlich. So haben sich die bereits vor dem Krieg kräftig gestiegenen Energiepreise auf den Spotmärkten nochmals erhöht.

Allerdings dürfte dies bislang nur den Teil der Wirtschaft ohne langfristige Lieferverträge betreffen. Ein Teil der Unternehmen profitiert hingegen noch von deutlich niedrigeren fixierten Preisen vor allem beim Erdgas. Dies gilt auch für die privaten Haushalte, die erst nach und nach von der Preisentwicklung getroffen werden. Auch die Folgen der gegenwärtigen harten Lockdowns in einigen großen Städten Chinas dürften die Lieferengpässe nochmals verschärfen.

„Diese ungünstigen Bedingungen führen zu einer großen Unsicherheit sowohl bei privaten Haushalten als auch bei Unternehmen“, sagt Oliver Holtemöller, Leiter der Abteilung Makroökonomik und Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). „Auf der anderen Seite erhält die Wirtschaft im Frühjahr einen Schub, wenn die privaten Haushalte im Zuge der abflauenden Pandemie wieder mehr kontaktintensive Dienstleistungen nachfragen.“

Eine eingetrübte Lage zeigt sich in vielen Indikatoren. So wird in der GfK-Konsumklimastudie für April von einer deutlichen Verschlechterung der Verbraucherstimmung berichtet. Der Ukraine-Krieg und die hohe Inflation lassen das Konsumklima auf ein historisches Tief stürzen. Allerdings hat sich laut ifo-Konjunkturumfrage die Stimmung im Handel hinsichtlich der Geschäftserwartungen stabilisiert. Auch im verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungssektor haben sich die Erwartungen im April zumindest nicht weiter verschlechtert. Im Bauhauptgewerbe trüben nach wie vor Materialengpässe und stark steigende Preise die Stimmung. Auch der IHS Markit/BME-Einkaufsmanager-Index (EMI) fiel im März und April deutlich. Den Pessimismus teilen ebenfalls die vom ZEW befragten Finanzmarktexperten. Der Earlybird-Frühindikator der Commerzbank war im März deutlich zurückgegangen; im April erreichte er jedoch fast wieder sein bisheriges Rekordhoch.

Das außenwirtschaftliche Umfeld hat sich zuletzt weiter eingetrübt. Zwar hat der Welthandel bis zum Februar noch deutlich expandiert, im Frühjahr dürfte es jedoch zu einem Rückschlag kommen. Grund: Im Laufe des März baute sich in China eine Pandemiewelle auf, gegen die strikte Lockdown-Maßnahmen verhängt worden sind, welche die Produktion und Exporte Chinas deutlich hemmen dürften. Das chinesische Bruttoinlandsprodukt nahm im ersten Quartal noch um für dortige Verhältnisse moderate 1,3 Prozent zu, im Euroraum nur um 0,2 Prozent. In den USA ging die Produktion sogar um (nicht annualisierte) 0,4 Prozent zurück, vor allem aufgrund stark gestiegener Importe und gesunkener Exporte.

Die Inflationsraten sind vielerorts weiter gestiegen, in den USA (CPI) auf 8,5 Prozent, im Euroraum (HVPI) auf 7,5 Prozent. In Reaktion auf die hohe Preisdynamik hat die US-Notenbank Anfang Mai ihren Leitzins um einen halben Prozentpunkt auf 1,0 Prozent (Obergrenze) erhöht, und die Finanzmärkte rechnen damit, dass auch die Europäische Zentralbank im dritten Quartal beginnen wird, ihre Leitzinsen anzuheben. „Die derzeitige Mischung aus Lieferkettenproblemen, Sanktionen und Inflation bringt die deutsche Wirtschaft derzeit in Bedrängnis. Es gilt Wege zu finden, sich in diesem schwierigen Umfeld zu behaupten. Solange die Probleme nicht gelöst sind, besteht die Gefahr, dass die deutsche Wirtschaft in eine Stagflation rutscht“, meint Oliver Holtemöller.

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von Frank Doll

Der IWH-Flash-Indikator basiert auf einer Vielzahl an Einzelindikatoren, die realwirtschaftlichen Indikatoren, Finanzmarktindikatoren, Umfragen, Preise und internationale Indikatoren umfassen. Ergänzt werden diese klassischen Indikatoren um solche, die die Effekte von Pandemie und Shutdown abbilden können, wie etwa Mobilitätsdaten von Google (Covid-19 Community Mobility Reports). Zu beachten ist, dass die berücksichtigten Indikatoren die Effekte des Krieges in der Ukraine auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland nur bedingt abbilden können. Auch die Shutdowns in China dürften zu verstärkten Lieferengpässen führen, die im aktuellen IWH-Flash-Indikator noch nicht berücksichtigt werden konnten.“

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