Zum zweiten Mal binnen weniger Tage soll das westliche Luftabwehrsystem Patriot Russlands Wunderwaffe vom Himmel geholt haben: die Hyperschallrakete Kinschal. Dabei galt die bisher als kaum abzufangen. Ein führender deutscher Luftverteidigungsexperte warnt nun allerdings davor, die Leistung von Patriot zu überschätzen. Bei den mutmaßlichen Abschüssen habe es sich offenbar um eine Sondersituation gehandelt.
Die Hyperschallrakete Kinschal basiert auf der Rakete Iskander. Anders als diese startet die Kinschal aber nicht vom Boden, sondern wird von einem Kampfjet aus gestartet. Die Iskander hat eine maximale Reichweite von knapp 500 Kilometern. „Wenn die Kinschal dagegen von einer MiG31 aus in sehr großer Höhe mit sehr großer Geschwindigkeit gestartet wird, hat sie durchaus eine Reichweite von etwas über 1000 Kilometern“, sagt ein Luftabwehrexperte, der ausländische Waffen für die Industrie analysiert.
Dadurch kann die russische Waffe Ziele mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit anfliegen. Das entspricht ungefähr drei Kilometern pro Sekunde. Bei der modernen Version des Patriot-Systems falle die Kinschal damit noch in den bekämpfbaren Bereich, so der Experte.
Entscheidend dafür ist vor allem das Radar von Patriot. Das wurde zuletzt nach dem zweiten Irakkrieg überarbeitet und bekam eine zweite Gruppe Röhren, die die Radarleistung liefern. Die Radarreichweite stieg dadurch und Patriot kann nun ballistische Flugkörper mit einer Reichweite von bis zu 1000 Kilometern abwehren, wie es die Kinschal ist.
Radarleistung ist entscheidend
Radarreichweite und Leistung sind entscheidend, um besonders schnell fliegende Raketen früh zu erfassen. Je eher das passiert, desto früher kann Patriot den Abwehrflugkörper starten und desto größer ist der Radius rund um seinen Stationierungsort, den das System verteidigen kann. Experten sprechen vom „Defended Footprint“.
Trotz des Updates nach dem Irakkrieg ist das System in den Augen des Experten aber nur bedingt in der Lage, gegen die modernen Kinschal vorzugehen. „Mit dem jetzigen Radar ist der Verteidigungsradius verschwindend klein“, sagt er. Es bräuchte also extrem viele Patriots, um mit ihnen ein größeres Gebiet gegen die Raketen zu verteidigen. Dass Patriot in den vergangenen Tagen in der Ukraine offenbar so gut funktioniert habe, liege wohl daran, dass die Kinschal versucht habe, das Patriot-Radar selbst auszuschalten.
Liegt das Ziel, welches die Patriot-Stellung verteidigen soll, jedoch weiter entfernt, kann das Ergebnis schnell anders aussehen. Ein wichtiger Faktor dabei ist auch die extrem hohe Geschwindigkeit der Kinschal. Patriot-Raketen sind mit Mach 4 bis 5 nur etwa halb so schnell. Auch das reduziert die Fläche, die sich mit ihnen in der kurzen Zeit verteidigen lässt.
Patriot verbessert sich rasant
Dass sich Patriot bisher dennoch ganz gut gegen die Kinschal behauptet, liegt auch an den neueren PAC-3-Flugkörpern des Systems. Die haben im Gegensatz zu den alten PAC-2, die im Golfkrieg eingesetzt wurden, einen aktiven Suchkopf. Das heißt, die Rakete sucht sich im Endanflug selbst ihr Ziel. Bei den alten PAC-2 musste das Radar am Boden das Ziel orten und die Rakete praktisch fernsteuern.
Wie Kampfjets der Ukraine im Krieg gegen Russland helfen würden
Die Ukraine hat im Gegensatz zu der klaren Forderung bei Kampfpanzern keine einheitliche Linie, wenn es um die Kampfjets geht. Vizeaußenminister Andrij Melnyk erwähnte faktisch alle bekannten Flugzeugtypen wie die US-amerikanischen F-16, F-35, die europäischen Entwicklungen des Eurofighters und der Tornados, die französischen Rafale und schwedische Gripen. Vor allem aber dürfte es um die F-16 gehen.
Die USA haben umfangreiche und überzählige Bestände an älteren Kampfflugzeugen - inklusive eines großen Flugzeug-Schrottplatzes auf der Luftwaffenbasis Davis-Monthan in Arizona, wo Militärmaschinen ausgeschlachtet werden. Bei den älteren Flugzeugtypen wie F-15 oder F-16 sowie F-10 („Warzenschwein“) könnte es wohl möglich sein, die Instandsetzung auf dem freien Markt einzukaufen. Ersatzteile sind in großer Zahl vorhanden. Grundvoraussetzung ist die Ausbildung.
Kriegsziel der Ukraine ist die komplette Befreiung des von Russland besetzten Staatsgebiets – einschließlich der bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim. Für einen effektiven Vormarsch der demnächst von westlichen Kampfpanzern gestärkten Bodentruppen müssen diese idealerweise von der Luftwaffe unterstützt werden. Aufgrund der weiter funktionierenden ukrainischen Flugabwehr setzt Russland eigene Jets nur begrenzt in Frontnähe für Bombardements ein.
Im Krieg gelingt es beiden Seiten immer wieder, gegnerische Flugzeuge abzuschießen. Berichte über direkte Luftkämpfe zwischen ukrainischen und russischen Kampfjets gab es nur in den ersten Kriegstagen. Westliche Jets könnten hier vor allem Lücken schließen helfen. Doch die Rückerlangung der Lufthoheit wäre auch nach der Lieferung Dutzender Kampfjets aus dem Westen nicht zu erwarten. Das wäre nur möglich, wenn die russischen Flugabwehrsysteme komplett ausgeschaltet werden.
Vor dem Krieg hatte die Ukraine den Londoner Analysten des International Institute for Strategic Studies zufolge etwa 110 einsatzfähige Kampfflugzeuge. 70 davon Jagdflugzeuge des sowjetischen Typs Mig-29 und Suchoi 27. Dazu noch 45 Suchoi 25 und 24 zur Bekämpfung von Bodenzielen. Während des Krieges soll Kiew den Waffenanalysten der Investigativgruppe Oryx zufolge weitere 18 Suchoi 25 aus verschiedenen Quellen erhalten haben. Polen lieferte zudem Medienberichten nach bereits Mig-29 in Einzelteilen, und auch die Bundesregierung steuerte Mig-29-Ersatzteile bei. Das russische Militär will dabei bereits mehr als das Dreifache aller real vorhandenen ukrainischen Flugzeuge abgeschossen haben.
Die westlichen Unterstützer der Ukraine haben inzwischen umfangreiche und schwere Waffen für den Kampf am Boden und zur Flugverteidigung geschickt. Abwehrsysteme wie Patriot und Iris-T wirken überaus effektiv gegen feindliche Flugzeuge, Raketen und Drohnen und dies 24 Stunden am Tag - und schützen doch nur auf einen gewissen Umkreis des eigenen Standortes. Anders Kampfflugzeuge, die zum Schutz großer Regionen geeignet sind, wenn auch nur für beispielsweise eineinhalb Stunden pro Flug.
Mehr noch als zur Überwachung und dem Schutz gegen Angriffe können Kampfflugzeuge als sogenannte Luftnahunterstützung in Kämpfe am Boden eingreifen. Und mehr noch: Sie ermöglichen es, die Kraftquellen („center of gravity“) des Gegners anzugreifen. Die Ukraine wäre befähigt, Nachschubwege, Aufmarschgebiete, Treibstofflager und strategische Ziele Russlands zu zerstören. Spätestens da – so befürchten einige – wird politisch gefährlich, was im Sinne der Selbstverteidigung nicht verboten scheint.
Russland würde die Lieferung von Kampfjets als weiteren großen Schritt sehen für die von Moskau ohnehin seit langem behauptete direkte Beteiligung des Westens an dem Konflikt in der Ukraine. Der für Rüstungsfragen zuständige russische Diplomat Konstantin Gawrilow sagte im russischen Staatsfernsehen, dass die Jets das Kampfgebiet geografisch vergrößern würden. Das bedeute „nichts Gutes“ für Russland, sei aber auch keine Katastrophe.
Mehrere Länder, darunter die USA und Polen, schließen die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine nicht aus. In der Bundesregierung will man dieses Signal nicht setzen. Weder als Vorhaben noch als Option akzeptieren derzeit Politiker der Ampel-Koalition diesen Schritt, ganz vorn Kanzler Olaf Scholz (SPD). Aber auch die Vorkämpfer der Leopard-Lieferung, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und der Grüne Anton Hofreiter, machten deutlich, dass sie gegen eine Lieferung von Kampfjets sind.
Russland hat zwar schon jetzt keine Luftüberlegenheit über der Ukraine – allerdings auch seine Kampfjet-Verbände noch nicht im vollen Umfang im Einsatz. Das russische Staatsfernsehen zeigt fast täglich voller Stolz die zerstörerische Kraft russischer Raketen, die von Flugzeugen abgeschossen werden. Der General und Militärpilot Wladimir Popow sagte in einem Interview der Moskauer Zeitung „MK“, dass Russland die Kampfjets mit Luft-Luft-Raketen abschießen würde. Wenn das nicht gelinge, müssten sie auf den Luftwaffenstützpunkten durch Hochpräzisionswaffen zerstört werden.
Dabei wies auch das Verteidigungsministerium in Moskau zuletzt Angaben des Westens zurück, Russland könnten die Raketen und die Munition ausgehen. Von ihren Zielen der Besetzung der vier ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson will Russlands Machtführung nicht ablassen. Kremlchef Wladimir Putin hat immer wieder betont, dass die Atommacht Russland ihre Interessen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen werde.
Die heutigen Flugkörper PAC-3 können das Ziel sogar direkt treffen, und nicht nur möglichst nahe daran explodieren wie die Vorgänger. Die zuletzt überarbeitete Version PAC-3-MSE besitzt zudem ein besseres Doppelimpulstriebwerk, mit einer höheren Reichweite. Es kann zudem größere Höhen erreichen. Und die nächsten Modelle, an denen Hersteller Lockheed Martin derzeit arbeitet, dürften noch besser werden. Radarlieferant Raytheon baut zudem ein komplett neues Radar namens GhostEye. Das soll ungefähr doppelt so viel Reichweite haben wie das heutige System.
Eine weitere Verbesserung an Patriot gab es nach dem zweiten Golfkrieg bei der Software. Damals fielen von den Scut-Raketen beim Wiedereintritt in die Atmosphäre oft Teile ab. Das System konnte Trümmer und Rakete oft nicht auseinander halten. Das ist inzwischen behoben, berichtet der Experte. Es hilf Patriot auch beim Kampf gegen die Kinschal. Die nämlich ist vermutlich wie die Iskander mit sogenannten Täuschkörpern ausgestattet, die Abfangraketen ablenken.
Selbst wenn Patriot sich zuletzt ganz gut gegen russische Hyperschallraketen geschlagen hat: Gegen chinesische Hyperschallgleiter hat es in den meisten Fällen wohl keine Chance, so der Experte. Die fliegen in ihrer Marschphase bis zu 60 Kilometern hoch, zu hoch selbst für die neuesten Patriot-Abfangraketen. Deswegen entwickeln die USA hier einen ganz neuen Flugkörper. Allerdings wird der wohl nicht in Patriot integriert werden.
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