Tracking der Energiewende #15 Der Nordsee-Bluff    

Offshore-Windkraft in der Nordsee (Montage) Quelle: dpa Picture-Alliance

Ein großer Teil der grünen Energie für Europa soll aus Windrädern in der Nordsee kommen. Doch die Potenziale dort sind geringer als behauptet wird, wie unsere Habeck-Uhr zeigt.

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Die deutsche Energiewende ist derzeit allzu oft: eine Ansammlung großer Pläne. Mal sollen sie 2030 erreicht werden, mal 2050. Aber nie: heute, in diesem, dem nächsten oder übernächsten Jahr. Und so bemühte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wohl ganz bewusst einen Kontrapunkt zu setzen, als er in der vergangenen Woche über die Windkraft aus der Nordsee sprach: „Jetzt ist der Zeitpunkt für den Aufbruch, und jetzt brechen wir auf“, sprach Scholz, als er gemeinsam mit den Regierungschefs aus Dänemark, den Niederlanden und Belgien, na, was wohl, vorstellte: einen ambitionierten Plan für die nicht allzu nahe Zukunft.

In diesem Jahr wird in Deutschland nur ein einziger Offshore-Windpark in der Nordsee mit kaum einem halben Gigawatt Leistung ans Netz gehen. Bis 2030 aber soll sich das Tempo rasant erhöhen, wollen die vier Staaten in der Nordsee 65 Gigawatt grünen Strom erzeugen, bis 2050 sollen es gar 150 Gigawatt sein. Es wäre die Hälfte dessen, was die EU in ihrem gesamten Seegebiet bis zu diesem Zeitpunkt plant. Ein spektakulärer Wurf wäre das, ein wirklich bedeutsamer Beitrag zur grünen Energieversorgung, aber erstmal ist es eben nur ein Plan. Zwar hat Kanzler Scholz recht, dass die Nordsee bereits heute rege für die Erzeugung von Windenergie genutzt wird. Und dennoch zeigt ein genauerer Blick auf die Ziele: Ganz frei von Hindernissen ist der Weg dorthin keineswegs. Und einige Grenzen der Physik werden da sogar ziemlich forsch ignoriert.

Dabei ist die Ausgangserkenntnis der Staatschefs völlig zutreffend: Der südliche Teil der Nordsee ist so geeignet wie kaum eine andere Region der Welt zur Erzeugung von Windkraft. Zum einen sind die Wege zu den industriellen Zentren in Deutschland, den Beneluxstaaten, Frankreich und Großbritannien von hier aus ziemlich kurz. Zum anderen sind auch die Bedingungen zur Stromerzeugung ideal: In ihrem südwestlichen Teil, ungefähr ab einer gedachten Linie zwischen Norddänemark und Mittelengland, ist das Meer sehr flach, selten beträgt die Wassertiefe mehr als 50 Meter. Zugleich wehen stabile Winde.

Und so ist die Nordsee schon seit langem auch der Ort großer Windkraftambitionen. Allein auf deutschem Territorium sind immerhin schon 7,8 Gigawatt Leistung installiert. Doch mit den nächsten 20 oder gar 60 Gigawatt, wie von der Bundesregierung bis 2050 für deutsche Hoheitsgewässer anvisiert, wird es kompliziert.

Das liegt zum einen an der Bürokratie. Die bisher errichteten Windparks wurden stets ausschließlich von dem Land bearbeitet und genehmigt, in dessen Hoheitsgewässer sich die Flächen befanden. Das ist aber nicht besonders effizient, da etwa das dänische Hoheitsgebiet zum Teil vom englischen Festland aus deutlich leichter zu erschließen wäre. Um das zu ändern, müsste eine Art gemeinsame Hochseeverwaltung geschaffen werden, das jedoch ist bisher nicht in Sicht.

Das zweite Problem ist der Anschluss der Parks. Bisher werden die mit einzelnen direkten Wechselstromleitungen an das Land angeschlossen, in dessen Hoheitsgewässer sie sich befinden. Das aber ist zum einen relativ ineffizient, da die Stromverluste auf Wechselstromleitungen hoch sind. Zum einen können diese Leitungen relativ wenig Strom transportieren. Je mehr Windparks also in der Nordsee entstehen, desto unübersichtlicher und verworrener wird das System. Experten fordern daher den Aufbau eines Gleichstromnetzes, welches im groben Raster die gesamte südliche Nordsee umfasst. An das würden die Windräder ihren Strom dann abgeben, über das Netz könnte er flexibel in die verschiedenen angeschlossenen Länder verteilt werden. Immerhin ein erster Schritt in diese Richtung wurde im vergangenen Jahr in Dänemark gegangen: Dort wird mitten im Meer die erste Energieinsel errichtet, auf welcher der Strom in einem sogenannten Converter von den Windrädern umgewandelt und per Gleichstrom aufs Festland geschickt werden kann. Rund 28 Milliarden Euro kostet das Projekt, zehn Gigawatt Windstrom sollen so gebündelt ans Festland transportiert werden.

Doch auch hier ist noch viel Abstimmungsarbeit nötig, nicht nur zwischen den beteiligten Staaten. So mahnt der Netzbetreiber Tennet: „Die Hochspannungsgleichstromtechnologie ist noch so neu, dass die Komponenten der verschiedenen Hersteller nicht miteinander verknüpft werden können. Es ist derzeit schlicht unmöglich, eine Converterstation, deren Teile von verschiedenen Herstellern kommen, anzuschließen.“

Solche Abstimmungsfragen mögen langfristig lösbar sein, die Erfahrungen der Vergangenheit jedoch haben gezeigt, dass sie den Ausbau mitunter um Jahre bremsen können, wenn zunächst weder die Anlagenbauer noch die Hersteller bereit sind, einseitig Investitionen anzustoßen.

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Noch grundsätzlicherer Natur sind die Sorgen, welche die langfristigen Ausbauziele betreffen. Schuld daran ist zum einen das mathematische Quadrat-Würfel-Gesetz, welches das Verhältnis zwischen der Größe und der Oberfläche eines Körpers beschreibt. Und grob besagt: Wenn ein Körper größer wird, dann wird er auch schwerer – und zwar um ein Vielfaches. Für Windkraftanlagen bedeutet das: Wenn eine Anlage mit einer Nabenhöhe von 150 Metern auf die Größe von 300 Metern wachsen soll, dann vervierfacht sich die Oberfläche – und das Gewicht verachtfacht sich. Entsprechend ineffizienter werden die Turbinen, bisher wird dieser Effekt nur dadurch ausgeglichen, dass im Vergleich zur Errichtung mehrerer kleinerer Turbinen der Aufwand für die Errichtung der Infrastruktur drumherum, also des Anschlusses oder des Fundaments, relativ geringer ausfällt. Ab einer bestimmten Höhe aber, da sind sich Experten sicher, wird sich das Größenwachstum nicht mehr lohnen – und der Platz in der Nordsee entsprechend knapper.


Stehen die Windkraftanlagen nämlich zu eng beieinander, dann behindern sie sich gegenseitig in ihrer Leistung. Und zwar in gehörigem Maße, wie es vor einiger Zeit etwa das Agora-Institut errechnet hat. Demnach liefern die derzeit in der deutschen Nordsee operierenden Anlagen rund 4000 Stunden im Jahr Energie. Würden die anvisierten 50 bis 70 Gigawatt installiert, warnen die Experten, „würde die Zahl der Volllaststunden deutlich sinken“, statt 4000 könnten es nur noch 3300 im Jahr sein, fast 20 Prozent weniger.

Angesichts solcher Zweifel ist es angemessen, neben den Plänen für die ferne Zukunft auch die messbare Gegenwart ins Auge zu nehmen. Und da zeigt sich: Der aufkeimende Schwung beim Ausbau der Erneuerbaren bleibt unzuverlässig.



So hat es einerseits in der vergangenen Woche endlich mal wieder nennenswerten Zubau bei der Windkraft gegeben – nachdem in den Tagen zuvor nur eine Hand voll Anlagen an den Start gingen. Zugleich schwächelt die Sonnenkraft, die zuvor über Wochen stetig stärker ausgebaut worden war, im Mai deutlich.

Entsprechend unbefriedigend sind die Gesamtergebnisse. Das von Klimaminister Robert Habeck (Grüne) anvisierte Ziel wird nicht gehalten, was derzeit vor allem an der Solarkraft liegt. Die Zahlen sind jedoch mit ein wenig Zurückhaltung zu interpretieren, da ein Softwarefehler bei der Bundesnetzagentur derzeit die Analyse erschwert. In der kommenden Woche soll er behoben sein.



Beim Blick auf die Bundesländer zeigt sich, dass der Einbruch bei der Solarkraft vor allem auf das Konto einiger mittelgroßer Länder geht, die hier zuletzt stark zugelegt hatten. Während die Zubauzahlen im Sonnenland Bayern weiter hoch sind, schwächeln etwa Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen oder auch Sachsen deutlich. Die neuen Windkraftanlagen stammen erneut aus Brandenburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen – so wie immer in den vergangenen vier Wochen.

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