Gleich verschieben und stornieren – oder hoffen, dass der Notfahrplan hält? Die Frage stellt sich Bahnfahrenden vor dem mittlerweile – wer hat mitgezählt? – sechsten Streik der Lokführergewerkschaft GDL und dem ersten der sogenannten Wellenstreiks, die gestaffelt und quasi unangekündigt stattfinden sollen, um die Deutsche Bahn noch stärker unter Druck zu setzen.
Bei aller Unsicherheit, was da noch kommt, ist eines klar: Das Verständnis nimmt weiter ab. Da sei etwas aus der Balance geraten, wenn kleine Gewerkschaften das Land lahmlegten, befand Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger unlängst in einem Interview – und forderte Einschränkungen des Streikrechts.
Nur, wie könnte das funktionieren? In Deutschland gilt seit langer Zeit der Grundsatz, dass sich die Politik aus Tarifangelegenheiten heraushält. Die Tarifautonomie ist gerichtlich im System fest verankert. Und so hört man die Politiker landauf, landab predigen, dass sie nicht auf die Tarifparteien einwirken wollen.
Dennoch werden Stimmen lauter, dass nun etwas unternommen werden müsse angesichts scheinbar überbordender Streiksucht durch die GDL. Nur was? Die Lösung dafür könnte auch mit der Frage zusammenhängen, warum die Bahnkonflikte immer weiter eskalieren.
Ein Ansatz für eine Streikreform: besondere Ankündigungspflichten für die Gewerkschaften. „Die Idee lautet: Wenn eine Gewerkschaft im sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge oder im Verkehr streiken will, muss sie Ort und Dauer der Arbeitsniederlegung deutlich vorher bekannt geben“, sagt Gregor Thüsing, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit an der Universität Bonn.
Etwa eine Woche hält Thüsing für eine vertretbare Zeitspanne zwischen Bekanntgabe und Durchführung eines Streiks. Die nun beginnenden Wellenstreiks der Lokführergewerkschaft wären so dann nicht mehr möglich. In den USA gebe es gesetzliche Ankündigungsfristen für die Gewerkschaften im Luft- und Bahnverkehr, sagt Thüsing, vergleichbare Regelungen existierten in Frankreich, Italien und Spanien.
Einen Vorschlag platzierte auch die CDU/CSU-Mittelstandsunion mit ihrem Positionspapier „Reform des Streikrechts“. Deren Vorständin Gitta Connemann formulierte es so: „Wir brauchen in Deutschland ein gesetzliches Arbeitskampfrecht“. Tatsächlich gibt es kein Gesetz, das den Streik regelt. Das Recht setzten in den vergangenen Jahren vor allem Arbeitsgerichte, selbst die Tarifautonomie haben Richter aus dem Grundgesetz abgeleitet – mit all ihren Unwägbarkeiten für die Politik.
Das will die Union ändern und Tarifpartnern bei Arbeitskämpfen Regeln vorschreiben, vor allem denjenigen, die in der kritischen Infrastruktur wie der Eisenbahn, den Wasserwerken oder der Energiewirtschaft arbeiten. Deren Arbeitskämpfe treffen üblicherweise auch mit wenigen Streikenden gleich große Teile der Bevölkerung, verursachen mit vergleichbar wenigen Mitteln ungleich große Schäden.
Von ihnen fordert die Union einen „Streikvorlauf“, also einige Tage Bedenkzeit, damit sich Betroffene auf die Folgen besser vorbereiten können. Dazu einen „Notdienst“ sowie ein Verbot von „Streiks an Feiertagen“. Außerdem will Connemann vor einem Streik erstmal den Konflikt schlichten lassen – etwas, dem sich die Lokführer im Moment verweigern. Den Vorschlag haben in den vergangenen Tagen auch eine Schar anderer Politiker und Verbände aufgenommen, der Begriff „Zwangsschlichtung“ macht die Runde.
Streikrecht einschränken?
Die Streiks in der kritischen Infrastruktur gesetzlich einzuschränken, das hält auch der Arbeitsrechtler Richard Giesen von der Universität München juristisch grundsätzlich für möglich. Das sei trotz Tarifautonomie vorstellbar. Aus seiner Sicht könnte man auf die Weise dem heutigen Richterrecht etwas entgegensetzen. „In den letzten Jahren stellen sich die Gerichte meisten auf die Seite der Gewerkschaften, um sich nicht den Vorwurf einzuhandeln, sie würden die Tarifautonomie verletzen“, sagt Giesen.
Schneller schlau: Streik-Recht
Das Streikrecht genießt einen hohen Schutz über die im Grundgesetz in Artikel 9 Absatz 3 verankerte Koalitionsfreiheit. Diese bezieht sich nicht auf politische Regierungsbündnisse, sondern auf das Recht eines Jeden,
„zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“.
Sie ermöglicht Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sich in Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden zusammenzuschließen, um einen Arbeitskampf zu führen und Tarifverträge auszuhandeln.
Nur eine Gewerkschaft darf einen Streik organisieren und führen. Und es darf nur für eine Forderung gestreikt werden, die in einem Tarifvertrag geregelt werden kann. Politische Streiks sind daher in Deutschland nicht erlaubt. Ein Streik muss verhältnismäßig sein.
In manchen Branchen gibt es Vereinbarungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften, dass sie mit Hilfe unbeteiligter Dritter einen Einigungsversuch unternehmen, wenn sie nicht weiterkommen am Verhandlungstisch.
Zum Beispiel gingen im Frühjahr 2023 Bund, Kommunen und Verdi für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in die Schlichtung. Die Schlichter machten nach mehrtägigen Beratungen mit Arbeitgebern und Gewerkschaften einen Einigungsvorschlag. Keine der Seiten war verpflichtet, den Vorschlag anzunehmen. Doch Verdi und der Deutsche Beamtenbund entschieden sich für eine Zustimmung. Der Tarifkonflikt war damit beendet.
Ob die eher kleineren Eingriffe wie durch die Union vorgeschlagen an der Streikmacht einer GDL aber viel ändern würden, das scheint zweifelhaft. Dass etwa eine Schlichtung die Parteien nicht automatisch zueinander führt, haben die Parteien dieses Arbeitskampfs vielfach demonstriert. Ende 2020 versuchte der damalige brandenburgische Ministerpräsident Mathias Platzek schon früh im Tarifstreit zwischen der Deutschen Bahn und der Lokführergewerkschaft als Schlichter zu vermitteln. Wochen später erklärten die Bahn und GDL-Führer Weselsky den Versuch für gescheitert. Zum Streik rief er trotzdem auf, mehrmals.
Lesen Sie auch: Das müssen Bahnkunden und Pendler jetzt wissen
An der Dauer und Häufigkeit eines Arbeitskampfes würden „Notdienste“ und „Streikvorlauf“ sowieso wenig ausrichten. Hier wären größere Eingriffe ins Gesetz nötig, etwa Streikverbote an bestimmten Tagen oder in bestimmten Regionen. Bahnexperte der Grünenfraktion im Bundestag, Matthias Gastel, hält solche Einschränkungen für „wenig praktikabel“, sagt er. „Ein Stellwerk ist an Streiktagen entweder besetzt oder eben nicht besetzt“, sagt Gastel. Er lehnt Einschränkungen beim Streikrecht generell ab.
Auch juristisch würden derlei schwerwiegende Eingriffe vor Gericht wenig erfolgreich sein, vermutet etwa Politikwissenschaftler und Streikexperte Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel. Seit Jahren beobachtet er, wie Wirtschaftsverbände und Teile der Politik das Streikrecht eingrenzen wollen. „Wegen des Gebots der Tarifautonomie sehe ich auch dieses Mal wenig Spielraum“, sagt Schroeder.
Ohne Streiks bleibt nur „kollektives Betteln“
Aus Sicht der Rechtsprechung der vergangenen Jahre ist die Sache klar: Um gewerkschaftlich wirksam gegen die Arbeitgeber aufzutreten, bedarf es auch scharfer Druckmittel. In einem berühmten Urteil vom Bundesarbeitsgericht heißt es dazu: „Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik wären nicht mehr als kollektives Betteln.“
Nur, warum die Streiks gerade jetzt eskalieren, erklären die Grundsätze nicht. Aus Sicht der Experten liegt das eher an institutionellen Interessen von Berufsgewerkschaften wie der GDL oder den Piloten von Cockpit und den Einschränkungen durch die Politik. Zum einen, argumentieren Arbeitsrechtler, sehen Beschäftigte in Infrastrukturen ihre Arbeitsplätze als eher ungefährdet, weil das Schienennetz nun einmal nicht ins Ausland verlegt werden kann und im Bereich sowieso Arbeitskräfte mangeln. „Es fehlen die klassischen Selbstregulierungskräfte“ wie sie in der Privatwirtschaft oft existierten, sagt Rechtler Giesen. Das lasse Lokführer länger und heftiger streiken als andere.
Zum anderen hat auch die Politik den Wettbewerb zwischen den Gewerkschaften verschärft. 2015 führte die Große Koalition nach jahrelangen Debatten das heute so umstrittene Tarifeinheitsgesetz (TED) ein. Das sollte Betrieben mit mehreren Gewerkschaften das Leben erleichtern. Im Zweifel dürften sie lediglich den Tarifvertrag einer Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern anwenden.
Das Gesetz sollte so die Kooperation zwischen den Parteien stärken und die Zersplitterung in Kleingewerkschaften aufhalten. In den allermeisten Unternehmen hat das auch funktioniert. Bei der Deutschen Bahn hingegen führte es zum Gegenteil. Für Streikexperten Schroeder wirkte das TED wie eine „Aufforderung zum Überbietungswettbewerb“ zwischen der größeren EVG und der oft kleineren GDL. Entstanden sei so eine „unerbittliche Kampfsituation“ zwischen Bahn und Gewerkschaft.
Auch der Grünen-Bahnexperte Gastel glaubt, dass die Arbeitskämpfe ohne das TED nicht so heftig wären wie jetzt. „Die Kombination aus Tarifstreit und Machtfragen erschwert jede Tarifrunde“, sagt er. Geht es nach ihm, gehört das Gesetz besser heute als morgen abgeschafft. Ob allerdings GDL-Chef Claus Weselsky sich dann mäßigen würde, ist dennoch fraglich – schon vor seiner Zeit und vor der Einführung des TED war die Gewerkschaft schließlich für ihre hohe Streikbereitschaft gefürchtet.
Neben den eher kleineren Einschränkungen wie sie die Mittelstandsunion vorschlägt, fordert Richard Giesen deshalb eher eine Verschärfung des TED. „Es wäre viel gewonnen“, sagt er, wenn Gewerkschaften, die die Minderheit im Betrieb sind, „nicht das Recht hätten, dort zu streiken“. Dass sie das dürfen, hatte das Bundesverfassungsgericht 2017 entschieden – und damit das TED seiner wichtigsten Funktion beraubt. Aus seiner Sicht wäre es für die Politik ein Versuch wert, diesen Makel zu korrigieren. Über die Zulässigkeit entscheiden, müssten dann die Arbeitsgerichte.
Denkbar wäre auch, dass Gewerkschaften ihre Forderungen aufeinander abstimmen oder gar eine Verhandlungsgemeinschaft bilden müssen – wie Gewerkschaften in anderen Branchen das im Übrigen längst aus eigenem Antrieb tun.
Politikwissenschaftler Schroeder setzt eher auf mildere Instrumente: So könnte die Führung der Deutschen Bahn im Vorfeld eines Tarifstreits etwa eine Kommission bilden, die die Bedürfnisse und Wünsche der Arbeitnehmer untersucht. Ob sich die Lokführer darauf einlassen?
Lesen Sie auch: Braucht es eine Reform des Streikrechts?
Transparenzhinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 26. Januar. Wir haben ihn aktualisiert und zeigen ihn aufgrund des Leserinteresses erneut.