Fahren, aber nicht kassieren Streik ohne Streit? In Japan geht das

Ein japanischer Busfahrer, wie üblich in Uniform (Symbolfoto). Quelle: Getty Images

In Deutschland stehen ab Donnerstag viele Bahnen still – mal wieder. Muss dieser Arbeitskampf denn immer auf dem Rücken der Fahrgäste ausgetragen werden? Nein, wie ein Blick nach Japan zeigt.

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Okayama, eine 700.000-Einwohner-Metropole im westlichen Teil der japanischen Hauptinsel, ist vor allem bekannt für eine Burg aus dem 16. Jahrhundert und einen Garten, der – ganz offiziell – zu den drei schönsten des Landes zählt. Im April 2018 machte die Stadt aber aus einem anderen Grund von sich reden: Damals streikten die Fahrer der lokalen Busgesellschaft Ryobi. Kurz zuvor hatte Konkurrent Megurin den Betrieb teils identischer Routen durch die Stadt aufgenommen, und das zum Schnäppchenpreis von nur 100 Yen. Die Ryobi-Busfahrer fürchteten daraufhin um ihre Beschäftigung, forderten mehr Jobsicherheit.

Als man diese nicht gewähren wollte, traten sie in einen ungewöhnlichen Streik: Anstatt die Arbeit niederzulegen, gingen die Busfahrer ihr wie gewohnt nach, sorgfältig und pünktlich – kassierten die Passagiere aber nicht ab und kontrollierten auch keine Fahrscheine. Videoaufnahmen lokaler Fernsehsender zeigen die mit weißen Tüchern säuberlich abgedeckten Ticketmaschinen, die sich in japanischen Bussen stets vorne beim Fahrer befinden.

Während die ohnehin vom Nahverkehr verwöhnten Fahrgäste also unter keinerlei Einschränkungen litten, sie wie üblich pünktlich zur Schule, zum Bahnhof, zur Arbeit und zum Arzt kamen, traf der Streik Ryobi an der empfindlichsten Stelle: den Umsätzen, die sofort auf null fielen.

Medienwirksame Streikaktion

Die Aktion sorgte nicht nur vor Ort, sondern auch international für mediale Aufmerksamkeit – womöglich, weil es zum tradierten Bild japanischer Dienstleister passt, die ihren geschätzten Kunden auf keinen Fall Unannehmlichkeiten bereiten wollen. Dazu passt auch „Huelga a la japonesa“, eine urbane Legende aus Lateinamerika und Spanien. Sie besagt, dass beim „Streik auf japanische Art“ durch Mehrarbeit gestreikt wird: Die Angestellten fahren ihre Produktivität in einer Weise hoch, die die Unternehmen nicht verkraften können und setzen so ihren Willen durch. Hört sich sensationell an, ist so aber nie passiert. Die Geschichte findet Nacherzähler, weil auch sie sich das Bild fügt, das die westliche Welt von den „arbeitsbesessenen“ Japanern hat.

Lokale Medien, allen voran der Fernsehsender KSB, berichteten ausführlich über den Streik, den die Gewerkschaft von Ryobi losgetreten hatte. Quelle: Screenshot

Streiks sind in Japan fast ausgestorben

Dass es sich beim „ Streik ohne Streit“ um die übliche Art handelt, wie in der derzeit drittgrößten Volkswirtschaft der Welt Arbeitskämpfe ausgetragen werden, stimmt allerdings nicht. Szenen wie die Gelbwesten-Proteste in Frankreich, inklusive brennender Autos und Prügeleien mit Polizisten, sind zwar undenkbar. Insgesamt jedoch hat die Zahl der Streiks in Japan rapide abgenommen. 1974 gab es noch knapp 9500 – damals hatten die Ölpreise zu einer radikalen Preiserhöhung in vielen Bereichen geführt –, 2022 nur noch 33 Streiks (zum Vergleich: In Deutschland waren es immerhin 220).

Schon 2015 beklagte Hifumi Okunuki, Dozentin für Arbeitsrecht und Präsidentin der Tokioter Tozen-Gewerkschaft, in einem Gastbeitrag für die „Japan Times“, dass ihre jungen Studenten weder wüssten, was ein Streik ist, noch wozu man diesen benötige. Okunuki begründet diese Indifferenz auch damit, dass viele Dienstleister das japanische Geschäftsmantra „Der Kunde ist Gott“ mittlerweile fast religiös verinnerlicht hätten. Für viele Arbeitnehmer sei es undenkbar geworden, Kunden aufgrund der eigenen „selbstsüchtigen Begehren“ zu belästigen. Und das, obwohl auch in der japanischen Verfassung das Streikrecht verankert ist. Die Busfahrer Okayamas fanden 2018 einen Weg, diesen inneren Zwiespalt zu umgehen.
Selbstverständlich lässt sich ein Streik einer regionalen Busgesellschaft in Japan nicht mit dem Generalstreik einer Deutschen Bahn oder bundesweiten Ausständen von Verdi vergleichen. Außerdem kauft man hier Tickets über die App oder an Automaten. Pendler haben in der Regel ein Monatsticket.

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Trotzdem wünscht man sich in diesen Tagen, dass auch Verdi, GDL und Co. mal eine Protestform einfällt, die nicht Zulasten tausender Fahrgäste geht. Sie müssen ja nicht gleich als Gott gelten. Sondern einfach nur als Menschen mit Verpflichtungen, Verabredungen und Terminen, die sich auf Bus und Bahn als Dienstleister verlassen. Als Kunden des öffentlichen Personennahverkehrs sind sie ohnehin oft genug gestraft.

Lesen Sie auch: Wie Japan das totale Parkverbot auf öffentlichen Straßen durchsetzt

Transparenzhinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 10. Januar 2024 bei der WirtschaftsWoche. Wir zeigen ihn aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.

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