Atomkraft in Europa Wer ist auf dem Holzweg in der Debatte um Kernkraft?

Atomkraft: Der zweite der vier Kühltürme des stillgelegten Atomkraftwerkes Biblis fällt planmäßig beim Abriss in sich zusammen. Quelle: dpa

Deutschland ist aus der Kernkraft ausgestiegen. Großbritannien hingegen will seine AKW-Kapazität vervierfachen, um von fossiler Energie wegzukommen. Welcher Weg ist aussichtsreicher?

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Totgesagte leben länger, sagt man. Aber gilt das auch für die Atomkraft? Nach den beiden verheerenden Unfällen in Tschernobyl und Fukushima schien die Atomenergie in den meisten Ländern der Erde keine Zukunft mehr zu haben. Die damalige Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beschloss 2011, kurz nach der Kernschmelze im japanischen Fukushima, den Atomausstieg. Trotz teilweise heftiger Kritik hat die Ampelregierung in Berlin ihn im vergangenen April vollzogen.

International aber verläuft die Sache weniger linear, hat sich der politische Wind für die Kernkraft offenbar inzwischen gedreht. Immer mehr Staaten haben in den vergangenen Monaten angekündigt, an der Kernenergie länger als geplant festhalten zu wollen oder sie sogar wieder auszubauen, darunter Polen, die Niederlande, Tschechien und Schweden. Der britische Premier Rishi Sunak hat nun ein besonders ambitioniertes Vorhaben angekündigt. Die Regierung in London veröffentlichte am 11. Januar einen Aktionsplan zum „größten Ausbau der Atomenergie seit 70 Jahren“, sagt Sunak. Ziel sei es, die Energieunabhängigkeit zu stärken und mehr Treibhausgase einzusparen.

Flucht nach vorn – oder naiv?

Neben dem Bau eines neuen, großen Atomkraftwerks will London in modernen Kernbrennstoff investieren und die Entwicklung kleiner, dezentraler Reaktoren, sogenannter SMR, vorantreiben. Die Produktion von Atomstrom auf der Insel soll so bis 2050 vervierfacht werden; Kernkraft soll dann ein Viertel des britischen Strombedarfs liefern. Das ist bemerkenswert, weil die Briten schon bei ihrem einzigen aktuellen Neubauprojekt, dem Reaktorblock Hinkley Point C, massive Probleme haben.

Nachdem dort die Kosten völlig aus dem Ruder laufen, warf der chinesische Atomkonzern China General Nuclear Power Group (CGN) kurz vor Weihnachten das Handtuch. Der Doppelreaktor im Südwesten Englands sollte ursprünglich 21 Milliarden Euro kosten, Schätzungen von Anfang 2023 beliefen sich aber bereits auf rund 40 Milliarden Euro, Insidern zufolge wird der Reaktor sogar noch wesentlich teurer werden. Derzeit läuft eine Neuberechnung der voraussichtlichen Kosten. Auch die für 2027 geplante Eröffnung dürfte sich weiter verzögern. Dennoch soll noch in diesem Jahr in Sizewell eine weitere Großbaustelle die Arbeit aufnehmen.

Ein Wachstum aber bedeutet das alleine noch nicht. Ohne die Neubauten würde Großbritanniens AKW-Kapazität wegen der anstehenden Stilllegung alter Reaktoren in den nächsten zehn Jahren sogar stark sinken. Denn die noch laufenden neun britischen Atomkraftwerke kommen in die Jahre, bis 2030 müssten einige vom Netz. Zusätzlich zu den bereits beschlossenen beiden Neubauten Hinkley Point C und Sizewell C will Sunak nun die Errichtung eines dritten Kraftwerks prüfen lassen.

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Wo das Großkraftwerk stehen könnte, ließ Sunak offen, sagte aber, dass es „sechs Millionen Haushalte mit Strom versorgen“ soll, was auf einen relativ großen Reaktor schließen lässt. Zugleich wird spekuliert, dass die Regierung trotz Sicherheitsbedenken die Laufzeiten der bestehenden AKW nochmals verlängern wird; EDF hat bereits angekündigt, für vier britische AKW die Laufzeitverlängerung zu beantragen.

Hilft die Kernkraft oder hindert sie?

Zur Begründung sagte Sunak, Nuklearenergie sei ein „perfektes Gegenmittel gegen die Energieherausforderungen“, denen Großbritannien gegenüberstehe, „sie ist grün, langfristig günstig und wird die britische Energiesicherheit“ ohne die Energieimporte von Despoten wie Putin sicherstellen. 

Im Grunde geht es um die Frage, ob bei einem Umbau des Energiesystems von fossilen zu erneuerbaren Quellen die Kernenergie eher helfen kann oder eher behindert. Deutsche Atomkraftgegner bringen häufig das Argument vor, Kernkraftwerke „verstopften“ die Leitungen und würden eher dazu führen, dass zum Beispiel mehr Windkraftanlagen abgeregelt werden müssten, als zum grüneren Strommix beizutragen. Belegen lässt sich das kaum. „Zumal die Netze ohnehin erheblich erweitert und umgebaut werden müssen“, sagt Christoph Maurer, Dozent für Elektrische Energiesysteme an der Uni Erlangen-Nürnberg. 

Und so sehen immer mehr Länder die Kernkraft offenbar zwölf Jahre nach Fukushima wieder als Hilfe auf dem Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft an. Bereits auf der Weltklimakonferenz COP 28 in Dubai hatten Anfang Dezember 22 Staaten angekündigt, die Kernenergie wiederbeleben zu wollen. Diese spiele „eine Schlüsselrolle dabei, (…) die Treibhausgasemissionen bis 2050 global auf null zu reduzieren und das 1,5-Grad-Ziel in Reichweite zu halten“, heißt es in ihrer Erklärung. Unter den 22 Atomfreunden aus Dubai sind viele große Industrieländer, neben Großbritannien, das seine Pläne nun am Freitag konkretisiert hat, etwa Frankreich, die USA und Japan. Andere, wie Russland, Korea und allen voran China, hatten nie vor, aus der Atomkraft auszusteigen.

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Auch viele Klimaforscher machen sich inzwischen für die Kernkraft stark. Petteri Taalas etwa, Chef der Weltwetterorganisation WMO, unter deren Dach der Weltklimarat IPCC seine in der Regel furchteinflößenden Berichte erstellt, forderte im Dezember in Dubai, „alle nicht fossilen Energiequellen zu nutzen, um die Treibhausgase zu senken, auch Atomstrom“. Ohne Kernkraft, sagen die Befürworter, sei das Ziel, ab 2050 kein Kohlendioxid (CO2) mehr auszustoßen und so den Anstieg der Erderwärmung zu begrenzen, nicht mehr zu schaffen. Der Ausbau der Erneuerbaren dauere dafür einfach zu lange. Kernenergie könne helfen, weil sie auch im Winter und bei Flaute CO2-freien Strom liefere – also genau dann, wenn sich die Erneuerbaren schwer tun.

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