Energieknappheit Wer ist wirklich Schuld an der Gaskrise? Ein Daten- und Faktencheck

Das europäische Pipelinenetz im Blick Quelle: transparency.entsog.eu

Gazprom drossele absichtlich die Lieferungen, um politischen Druck aufzubauen, heißt es. Stimmt nicht, heißt es aus Russland: Deutschland habe zu wenig Gas bestellt. Was stimmt? Gasflussgrafiken zeigen die Wahrheit.

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Der Konflikt mit Russland spaltet die Bevölkerung. Während die einen Russland als Erpresser sehen, vermuten die anderen das Versagen auf deutscher Seite. Der Zwist zieht sich bis in fachliche Details. Deshalb hier ein Daten- und Faktenchecks zu den größten Fragen anhand aktueller Gasflussgrafiken.

Ist es richtig, Russland im Fall der Gaslieferungen mit Gazprom gleichzusetzen?

Ja. Denn Gazprom ist Monopolist bei russischen Gas-Exporten. Mehrheitlich gehört der Konzern dem Staat.

Erfüllt Gazprom seine Lieferverträge mit europäischen Vertragspartnern?

Ja. Gazprom hat bisher alle seine langfristigen Lieferverträge mit europäischen Abnehmern erfüllt.

Warum heißt es dann, Russland liefere zu wenig Gas?

Die Nachfrage in Europa ist höher als die bestellte Menge. Das macht Gas knapp, die Briten sprechen von einem „Gas crunch“. Nun könnte man sagen: So ist der Markt, Gazprom nutzt die Knappheit, um höhere Preise durchzusetzen. In der Vergangenheit war es schließlich auch schon mal umgekehrt: Zu Beginn der Pandemie 2020 brachen die Gaspreise ein, Produzenten wie Gazprom verzeichneten Einbußen.



Verwunderlich ist dennoch, dass Gazprom seine Lieferungen nicht ausweitet, auch für größere Mengen wäre es derzeit nämlich gut möglich, hohe Preise durchzusetzen. So prangert etwa Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission und für Wettbewerbsfragen zuständige EU-Kommissarin, am 13. Januar auf einer Pressekonferenz an: „Es macht nachdenklich, dass ein Unternehmen angesichts steigender Nachfrage das Angebot limitiert. Das ist ein ziemlich seltenes Verhalten auf dem Markt.“

Lesen Sie dazu auch unseren Kommentar: Wappnet euch gegen Putin: Spart Energie!


Woran lässt sich denn festmachen, dass Gazprom so wenig liefert?

Man kann beobachten, wie viel Gas auf welchem Weg nach Europa kommt. Für Nordeuropa und Deutschland sind drei Pipelines relevant: Die Nord-Stream-1-Pipeline, die durch die Ostsee verläuft und in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern ankommt, die Jamal-Europa-Pipeline, die über die Gebiete von Belarus und Polen verläuft und an der Verdichterstation Mallnow in Brandenburg ankommt. Und es gibt das ukrainische Gastransitnetz, über das Gas nach Deutschland gelangen kann.

Aktuelle Gasflussdaten des Verbandes Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber zeigen klar, dass der sonst so stabile Gasimport beispielsweise über die Jamal-Pipeline am wichtigen Messpunkt Kondratki an der polnisch-belarusischen Grenze seit Herbst stark eingebrochen ist. Inzwischen liegt er bei Null – genauso wie der Import an einem Messpunkt in Südpolen, wo Gas über die Ukraine ins Land kommt. Ähnlich dramatisch sieht die Lage am Messpunkt Uzhgorod an der slowakisch-ukrainischen Grenze aus, wo der Gasfluss nur noch ein Drittel des Normalwertes beträgt. So etwas hat es in den vergangenen fünf Jahren nicht gegeben.

Kondratki Wysokoje Polnisch-ukrainische Grenze

Stark zurückgegangen sind auch die Lieferungen über die Ukraine nach Ungarn. Mit Ungarn hatte Gazprom im Herbst einen Vertrag geschlossen, demzufolge das Gas nun über Turk Stream, eine Pipeline, die von Russland in die Türkei führt, geliefert wird, um dann wieder Richtung Norden zu fließen. Dabei wird die Ukraine von Russland gezielt umgangen. Entsprechend stabil zeigen sich die Gasflüsse an der türkisch-bulgarischen Grenze. Stabil sind außerdem die Werte an der Ostseepipeline Nord Stream 1.

Doch kein Messpunkt verzeichnete einen sprunghaften Anstieg, der die massiven Einbrüche an anderer Stelle ausgleichen könnte. 

Uzhgorod Bulgarisch-türkische Grenze

Konnte oder kann Gazprom vielleicht gar nicht mehr Gas liefern, als der Konzern es tut?

Im vergangenen Spätsommer und im Frühherbst gab es gute Argumente für diese Sichtweise. Gazprom musste erst einmal eigene, russische Erdgasspeicher befüllen. Auch gab es im August einen Brand in einer Verarbeitungsanlage nahe der westsibirischen Stadt Nowy Urengoi, woraufhin Gazprom den Export nach Westen über Belarus und Polen halbierte. Aber bis zum Spätherbst war dies alles überwunden.

Vor allem Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seines Sprechers Dmitri Sergejewitsch Peskow sind es, die inzwischen den Verdacht stützen, dass hinter den knappen Lieferungen politische Absichten stecken. So sagte Putin am 21. Oktober bei einem Diskussionsforum in Sotschi, dass, wenn die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 genehmigt würde, man schon am nächsten Tag mehr Gas liefern könne.

Lesen Sie hier: Abhängigkeit von Russland – Das deutsche Energiedilemma

Fatih Birol, der Chef der Internationalen Energieagentur, gab vor wenigen Tagen Russland die Schuld an der europäischen Energiekrise. Das Land drossele Gaslieferungen nach Europa in Zeiten „erhöhter geopolitischer Spannungen“, was wiederum darauf hindeute, dass Moskau eine Energiekrise für politische Zwecke provoziere. „Russland könnte bis zu einem Drittel mehr Gas durch bestehende Pipelines leiten“, sagte Birol weiter. Die Pipelinekapazitäten für erhöhte Lieferungen, das zeigen auch die Gasflussdaten, wären definitiv vorhanden.

Trägt die EU eine Mitschuld?

Tragen die Europäer eine Mitschuld an den niedrigen Lieferungen, weil sie auf kurzfristigen Verträgen beharren?

Vielleicht. Während Gazprom Interesse an langfristigen Verträgen hat, hat die EU lange gesagt: Der Wettbewerb auf dem Gasmarkt muss erhalten bleiben, die Lieferverträge müssen kürzer werden. Nur so kann der Markt walten. Insofern ist es nur konsequent, wenn manche Gazprom-Vertreter jetzt sagen: Das habt Ihr nun davon. 

Stimmt es, dass die Deutschen Gas nach Polen und in die Ukraine pumpen und so selbst zur Knappheit beitragen, die wiederum den Preis erhöht?

Richtig ist, dass seit einiger Zeit dem Überwachungssystem zufolge der Gasfluss von Deutschland nach Polen am Messpunkt Mallnow massiv ansteigt. Zwar hat es auch in den vergangenen Jahren immer mal wieder solche umgekehrten Flüsse Richtung Polen gegeben. Doch noch nie in einem solchen Ausmaß.

Da Russland über die Ukraine und Weißrussland den Daten zufolge aktuell kaum Gas durch Polen schickt, muss sich das Land anderswo behelfen. Und das geschieht offenbar über Deutschland. 

Mallnow

Die Ukraine hat ein ähnliches Problem. Russland beliefert das Land schon seit 2016 nicht mehr direkt. Seitdem wird es über sogenannte virtuelle Rückflüsse versorgt, vor allem von Ungarn, der Slowakei und Polen. Die Ukraine kauft das Gas aus den entsprechenden EU-Staaten und zweigt es sich direkt aus den Pipelines ab, die durch die Ukraine laufen. Russland beurteilt diese Rückflüsse schon länger als unzulässig.

Am 1. Oktober teilte die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass mit, dass die Ukraine die Möglichkeit solcher virtuellen Rückflüsse im Fall von Ungarn verloren habe, weil Russland Ungarn jetzt über die Türkei und die Balkan-Stream-Pipeline versorge.

An Messpunkt Sudzha an der russisch-ukrainischen Grenze sank die Gasmenge zudem seit Dezember um rund 80 Prozent, sodass kaum noch russisches Gas durch das Land fließt.

Sudzha

Falsch ist hingegen die Schlussfolgerung, Deutschland könne das Gas einfach behalten, um so den Preis hierzulande zu senken. Der Gashandel funktioniert in Europa marktwirtschaftlich, Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, vor allem für kurzfristig gehandeltes Gas, etwa am niederländischen TTF, dem wichtigsten Handelspunkt. 

Wenn es in der Ukraine oder Polen eine Knappheit gibt, zahlen Versorger dort gute Preise und Händler verkaufen selbstverständlich Gas weiter. Deutschland wird derzeit über die Pipeline Nord Stream 1 recht stabil beliefert. Würde die Bundesrepublik das Gas einfach einbehalten, käme das einer Beschlagnahmung gleich.

Nord Stream 1

Werden die Erdgaslieferungen aus Russland nicht jedes Jahr gedrosselt, wenn der Winter einbricht?

Nein. Zwar kam es den Gasflussdaten zufolge in der Vergangenheit hin und wieder mal an wichtigen Pipelines zu Reduktionen der Mengen, diese waren aber nicht von Dauer wie im aktuellen Winter. 

Das teure Gas, heißt es, ist auch eine Folge der deutschen Energiepolitik.

Deutschland braucht mehr Gas, weil 2022 die Atomkraftwerke und dann auch bald die Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Nicht das niedrige Angebot sei also das Problem, sondern die höhere Nachfrage. Mittelfristig stimmt das. Die neue Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgelegt, dass in den nächsten Jahren weitere Gaskraftwerke gebaut werden müssen. Die sollen die Brückentechnologie ins Zeitalter der Erneuerbaren liefern. Aber im vergangenen Jahr - 2021 - hatte Gas nur einen Anteil von 10,4 Prozent an der Nettostromerzeugung, Braun- und Steinkohle dagegen einen Anteil von rund 30 Prozent.

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Aber warum hat die EU insgesamt zu wenig Gas bestellt?

Die Europäische Union bestellt genau genommen gar nichts. Die EU sorgt nur dafür, dass der Markt funktioniert. Angesichts der hohen Gaspreise gab es zuletzt auf Betreiben einiger Länder, darunter Spanien, den Plan, gemeinsame Gasreserven anzulegen, um im Fall einer plötzlichen Knappheit ausgleichen zu können – und auch zu verhindern, dass die Preise zu sehr in die Höhe schießen. Der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, haben auch klar bejaht, dass es diese Möglichkeit gibt. Nur wird die konkrete Umsetzung den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten oder möglichen Beschaffungsallianzen überlassen. In Deutschland haben die SPD und auch Wirtschaftsminister Robert Habeck angeregt, in den deutschen Erdgasspeichern nationale Reserven anzulegen. Denn die Füllstände in den Speichern sind auf historischen Tiefständen.

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