Klage-Welle gegen Coronaregeln „Regelungsirrsinn“, „Bananenrepublik“: 2G entzweit Einzelhandel

Auf einem Schild an einem Zaun wird auf die 2G-Regel hingewiesen. Quelle: dpa

Die 2G-Auflagen im Einzelhandel treiben Unternehmen wie Woolworth und Ernsting's Family auf die Barrikaden. Sie ziehen vor Gericht, um die Regeln zu kippen und für Umsatzausfälle entschädigt zu werden. Wird das klappen?

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Den Anfang macht Woolworth: Die Kaufhauskette hat am Mittwoch beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Klage gegen die 2G-Regelung im Einzelhandel eingereicht. „Bislang ist nicht bekannt, dass der stationäre Einzelhandel eine signifikante Infektionsgefahr darstellt“, sagt ein Unternehmenssprecher. Daher halte man die 2G-Regelung, nach der nur Geimpfte und Genesene Zutritt zu vielen Läden haben, für „unangemessen“. Die Tatsache, dass andere Handelskonzepte wie Supermärkte oder Drogerien nicht von der Zugangsbeschränkung betroffen sind, sieht Woolworth als „unverhältnismäßig und diskriminierend“ an.

Ähnlich gelagerte Klagen dürften wohl in sämtlichen Bundesländern folgen, etwa von Timm Homann. Der Chef der Bekleidungskette Ernsting's Family spricht angesichts der 2G-Auflagen im Einzelhandel von „Regelungsirrsinn“, einer „Bananenrepublik“ und „undemokratischen“ Entscheidungen. Und auch er will klagen - und zwar „bis zum letzten Euro“, kündigte er im „Spiegel“ an. Zumindest die entstandenen Schäden sollten „fair und mit Anstand“ ausgeglichen werden. 

Seit letzter Woche würden die Rechtsanwälte von Ernsting’s an unterschiedlichen Orten und „in unterschiedlichen Themenfeldern“ den Klageweg vorbereiten, teilt ein Unternehmenssprecher mit. Dabei gehe es nicht allein um die „unentschädigten Zugangsbeschränkungen für willkürlich ausgewählte Teile des Handels„, sondern auch um die „Delegation der Kontrollpflicht“ an die Mitarbeiter.

Doch haben Ernsting’s, Woolworth und Co. tatsächlich Chancen, die 2G-Regeln zu kippen, oder sogar nennenswerte Entschädigungen zu erhalten? Juristen sind da – wenig überraschend – ganz unterschiedlicher Auffassung.

Laut eines vom Branchenverband HDE in Auftrag gegebenen Rechtsgutachtens der Kanzlei Noerr seien 2G-Maßnahmen im Kampf gegen die Virus-Pandemie unter den derzeitigen Voraussetzungen rechtswidrig. So sehen die Noerr-Juristen eine Verletzung der Berufsfreiheit und des sogenannten Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Zudem liege auch eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts vor. Kurzfristig sei der Staat zu finanziellen Ausgleichsmaßnahmen zur umfassenden Kompensation verpflichtet, die im Infektionsschutzgesetz indes nicht vorgesehen seien. Dem Gutachten zufolge sind 2G-Regeln im Handel mittelfristig auch bei finanzieller Entschädigung nicht mehr zu rechtfertigen, „wenn der Gesetzgeber trotz Kenntnis der Gefährdungslage für die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung auf die Einführung einer Impfpflicht verzichtet“. 

Ob die Gerichte das auch so sehen werden, scheint indes fraglich. In bisherigen Eilverfahren zur Rechtmäßigkeit von Pandemieauflagen ließen die Richter die landespolitisch verordneten Beschränkungen bis hin zum Lockdown meist gelten. Erst kürzlich hat zudem das Bundesverfassungsgericht zentrale Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung für rechtens erklärt. Nach dem Karlsruher Urteil durfte der Bund in der dritten Pandemie-Welle im Frühjahr über die sogenannte Corona-Notbremse Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen verhängen. Die Maßnahmen hätten in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte eingegriffen, seien aber „in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie“ mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen.

Das ist zwar keine Vorentscheidung über die Rechtmäßigkeit von 2G-Beschränkungen im Einzelhandel, zeigt aber, welchen Handlungsspielraum das Gericht der Politik in der Krise zubilligt.

„Entgangene Geschäftschancen lassen sich nicht einklagen“

Dennoch bleibe die rechtliche Bewertung der 2G-Auflagen schwierig, sagt Daniel Graewe, Professor für Wirtschaftsrecht an der Nordakademie. Waren die Lockdowns im vergangenen Jahr „eine großzügig zu wertende Notmaßnahme aufgrund einer noch nie dagewesenen Situation“, seien jetzt, nach fast zwei Jahren Pandemie,  andere juristische Kriterien an Schutzmaßnahmen anzulegen. Literatur oder Rechtsprechung existierten dazu bislang nicht. Hinzu komme, dass es wissenschaftlich umstritten sei, wie groß der Beitrag von 2G im Einzelhandel zur Pandemiebekämpfung wirklich ist und ob dieser Beitrag ausreichen würde, um einen solchen Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Einzelhändler zu rechtfertigen.

Welchen Stellenwert diese „Freiheit“ letztlich in Krisensituation hat, könnte auch eine Verfassungsbeschwerde der branchenübergreifenden Initiative „Händler helfen Händlern“ gegen die Bundesnotbremse zeigen. Die Unternehmen sehen sich durch die Regelungen zur Öffnung von Ladengeschäften und Märkten in ihren Grundrechten verletzt. Konkret geht es darum, dass die Öffnung des Handels bei Überschreitung der Inzidenz von 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen untersagt ist. Diese Regelung verletze das Recht auf Berufsfreiheit, das Eigentumsrecht sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz, argumentiert die Initiative. Zu den zehn Beschwerdeführern zählen unter anderem Tom Tailor, Rose Bikes, die Verbundgruppe Intersport und wiederum Ernsting‘s Family. Die Beschwerde soll spätere Schadenersatzansprüche von Händlern aufgrund der Bundesnotbremse ermöglichen.

Andere Einzelhändler fordern auch direkt Entschädigungszahlungen von den jeweiligen Bundesländern für die Schließungen in der Lockdown-Zeit. So hatte im März bereits der Textilverbund Unitex, dem mehr als 800 mittelständische Mode-Einzelhändler und Filialbetriebe angehören, „Schadensersatz für die massiven wirtschaftlichen Einbußen, die die Händler durch die zwei Shutdowns im Frühjahr 2020 und ab November 2020 erlitten haben und noch erleiden“, gefordert. Es gebe 'keine belastbare Grundlage, dass Läden zu Corona-Hotspots geworden sind', sagte Unitex-Geschäftsführer Gerhard Albrecht damals. Mehr als 300 Unternehmen hätten sich der Aktion angeschlossen. Er werde 'Pilotklagen' einreichen, kündigte Klaus Nieding von der gleichnamigen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt an, die Unitex vertritt. Eine Anfrage der WirtschaftsWoche zum Stand der Verfahren ließ Niering bislang unbeantwortet.

Auch der Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof, der im Zuge des ersten Lockdowns eine Schutzschirm-Insolvenz eingeleitet hatte, hoffte bereits auf einen niedrigen dreistelligen Millionenbetrag als Entschädigung von der öffentlichen Hand. Diese blieb bislang aus - Diese blieb bislang aus - und das dürfte bei Galeria ebenso wie bei den weiteren Klägern auch so bleiben, erwartet Experte Graewe. Er habe bislang zumindest „kein Urteil gefunden, das einem Einzelhändler wegen der früheren Lockdowns grundsätzlich einen Entschädigungsanspruch zugestanden hätte“. 

Im Gegenteil: Klagen auf dem Verwaltungsweg gegen die Lockdowns wurden von verschiedenen Gerichten als rechtmäßig eingestuft. „Wenn aber schon die Schließungsanordnungen rechtmäßig waren, besteht auch kein - auf dem Zivilrechtsweg geltend zu machender – Schadensersatzanspruch, denn der Staat hatte ja rechtmäßig gehandelt“, argumentiert Grewe. Exemplarisch ist etwa der Fall eines Berliner Gaststättenbetreibers der wegen der coronabedingten Schließung seines Betriebs im ersten Lockdown Entschädigung vom Land Berlin verlangte. 

Das Landgericht Berlin wies die Klage jedoch ab, es gebe weder Ansprüche aus „Amtspflichtverletzung“, noch liege ein „enteignungsgleicher Eingriff“ vor, befanden die Richter. Vielmehr müsse der Gastronom als Unternehmer darauf eingestellt sein und habe es hinzunehmen, durch äußere Umstände vorübergehend vollständig an der Ausübung seiner Erwerbstätigkeit gehindert zu werden. In den nun anstehenden Prozessen könnten ähnliche Argumente wieder eine Rolle spielen.

Hinzu kommt die Frage, ob und wie sich ein entstandener „Schaden“ überhaupt berechnen lässt. „Entgangene Geschäftschancen lassen sich nicht einklagen“, sagte Graewe. 

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Versuche dazu wird es dennoch geben. „Das Thema wird die Gerichtsinstanzen sicherlich noch mehrere Jahre beschäftigen“, sagt Graewe. Der Bundesgerichtshof dürfte sich mit Entschädigungsklagen allerdings erst 2023 oder sogar 2024 befassen, vermutet der Jurist.

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