„Eine vergleichbare Wachstumsgeschichte hat es vermutlich noch nie gegeben“, sagte Philipp Gattner, Chef des deutschen Gebrauchtwarenanbieters Rebuy, kürzlich der WirtschaftsWoche. Und tatsächlich ist die Erfolgsgeschichte des chinesischen Billighändlers Temu eine, die ihresgleichen sucht: Jeder vierte Deutsche hat laut einer Umfrage des Marktforschers Appinio allein im zweiten Halbjahr 2023 bei Temu eingekauft. Nur ein Dreivierteljahr nach Markteintritt in Deutschland näherte sich der Anbieter damit bereits den Zahlen lang etablierter Marktplayer wie Otto (30 Prozent) oder Ebay (44 Prozent) an.
In der deutschen Wirtschaft löst der chinesische Erfolg nicht nur Anerkennung aus, sondern vor allem: Sorgen ums eigene Geschäft. Das belegt eine neue Studie, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt, jetzt auch in Zahlen: Jede dritte Führungskraft im deutschen Handel sorgt sich demnach um die Zukunft des eigenen Unternehmens angesichts der neuen chinesischen Konkurrenz.
Für die Studie hat das privatwirtschaftliche Price Management Institute mehr als 200 Führungskräfte aus unterschiedlichen Segmenten des deutschen Handels und E-Commerce befragt. Drei Viertel davon halten den Wettbewerb aus Asien für ziemlich bis äußerst relevant für den deutschen Handel und E-Commerce insgesamt. 77 Prozent bescheinigen, dass die Relevanz des Wettbewerbs aus Asien (Temu, Shein) für den deutschen Handel und E-Commerce zugenommen hat.
Die Ergebnisse der Umfrage zeigen auch: Protektionismus allein kann nicht die Lösung sein, um der neuen chinesischen Konkurrenz Herr zu werden. Jeder Fünfte hält den deutschen Handel und E-Commerce für nicht sehr wettbewerbsfähig, ein Drittel empfindet die Leistungsfähigkeit deutscher Händler als schlechter gegenüber der asiatischen Konkurrenz. Ein Drittel der Befragten stimmt zudem zu, dass der deutsche Handel und E-Commerce mittelfristig ins Hintertreffen gegenüber dem Wettbewerb aus Asien geraten wird, wenn keine deutlichen Anstrengungen unternommen werden. Inklusive der Befragten, die der Aussage „eher zustimmen“, beträgt der Anteil sogar 66 Prozent.
Dennoch gehen Veränderungen in den befragten Unternehmen nur zäh vonstatten – weil es an Know-how fehlt und weil sich die Geschäftsleitung gegen Veränderungen sträubt. Auch das zeigt die Studie. So gibt darin etwa nur ein Fünftel der Befragten an, bereits Maßnahmen und Projekte als Reaktion auf den Wettbewerb aus Asien umgesetzt oder auf den Weg gebracht zu haben. Jede dritte befragte Führungskraft ist der Meinung, deutsche Manager hätten „nicht die richtigen Skills, um datenbasierte Entscheidungen vorzubereiten“. 23 Prozent nehmen wahr, dass sich die Geschäftsleitung des eigenen Unternehmens gegen Veränderungen in dieser Hinsicht sträube.
Schneller schlau: Shein
Der chinesische Konzern Shein ist für günstige und schnell wechselnde Kollektionen bekannt. Binnen weniger Jahre stieg er zu einer der weltweit größten Online-Modefirmen auf. Der chinesische Unternehmer Chris Xu gründete Shein 2012. Der Konzern bringt inzwischen täglich mehrere Tausend neue Kleidungsstücke seiner zehn Modemarken auf den Markt, die er ausschließlich über seine Webseite verkauft.
Shein produziert seine Kleidung in China und verkauft sie außerhalb der Volksrepublik. Das Unternehmen betreibt keine eigenen Fabriken, sondern arbeitet mit Tausenden hauptsächlich chinesischen Subunternehmern zusammen.
Der Modehändler hat ein System entwickelt, um die Produktion rasch der Nachfrage anzupassen: Dadurch liegt der Anteil unverkaufter Ware Angaben von Shein zufolge im niedrigen einstelligen Prozentbereich.
Bei Werbung setzt Shein voll auf das Internet: Der Konzern arbeitet mit zahlreichen Influencern zusammen, die die Produkte auf Plattformen wie Youtube oder TikTok bewerben.
Stand: 15. Dezember 2023
Es gebe eine Abwehrstrategie für deutsche Händler „in Form dessen, jetzt nicht das Geld in massive Marketingausgaben zu stecken, sondern ihre Produkte schlauer, datengetriebener und personalisierter zu vermarkten“, sagte kürzlich der E-Commerce-Experte Mike Schwanke der WirtschaftsWoche. Die Unternehmen, die heute existieren, hätten „einen wahnsinnigen Schatz an Kundendaten, den sie deutlich besser nutzen könnten, um im One-to-one-Marketing ein Return on Invest zu erzielen. Und damit auch eine starke Abgrenzung, um den Markteintritt für solche neuen Player zu erschweren.“ Hiesige Unternehmen hätten einen Vorsprung, „weil sie die Kunden viel länger kennen und bereits ein direktes Kundenverhältnis haben, das auf Vertrauen aufbaut“. Das gelte es jetzt zu nutzen. „Temus Erfolg sollte ein Weckruf sein.“
Dieser Einschätzung stimmt die Mehrheit der befragten Führungskräfte im deutschen Handel zu: Datenbasierte Entscheidungsfindung sei wichtig für den Erfolg des eigenen Unternehmens, sagen 56 Prozent von ihnen. 47 Prozent stimmen zu, dass ihr Unternehmen Entscheidungen stärker auf der Basis von Daten treffen sollte als dies bisher geschieht.
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