Flugsicherheit Boeing braucht einen Max-Ersatz – aber nicht wegen des aktuellen Unfalls

Quelle: REUTERS

Das Unglück lässt die Boeing 737 Max erneut als Pannenflieger dastehen. Das ist überzogen, zumindest bis die Ursache feststeht. Denn das Modell ist gründlicher getestet als jeder Flieger zuvor.

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Für das wichtigste Unternehmen seiner Heimatstadt Seattle hatte Scott Hamilton nur einen Neujahrswunsch. „Boeing braucht ein langweiliges Jahr“, sagte der Inhaber des auf die Flugbranche spezialisierten Beratungs- und Marktforschungsunternehmens Leeham am vergangenen Donnerstag in seinem Ausblick auf 2024.

Die Hoffnung platzte bereits einen Tag später. Dann verlor eine Boeing 737 Max der US-Linie Alaska Airlines im Flug einen Teil der Außenwand und musste unter dramatischen Umständen notlanden. Dass kein Passagier zu Schaden kam, war für die Chefin der amerikanischen Verkehrssicherheitsbehörde NTSB Jennifer Homendy „großes Glück“. Nur weil kurz nach dem Start Passagiere und Besatzung noch angeschnallt waren, wurden nur Handys und Mützen, aber keine Reisende durch das Loch nach draußen gesogen. Das zeigen die Schäden an Sitz 26A neben dem herausgebrochenen Rumpfsegment, der zum Glück nicht besetzt war. Dem Sitz fehlten ganze Bauteile wie etwa die Kopfstütze. Prompt verhängte die Behörden ein Flugverbot für weite Teile des Flugzeugmodells.

Für viele in der Branche war der Vorfall keine große Überraschung. Der ehemalige Boeing-Manager Ed Pierson hält ihn für einen weiteren Beleg, dass beim weltgrößte Luftfahrtkonzern „Profit vor Sicherheit“ gehe. Dafür verweist er auf eine lange Liste von Produktions- und Qualitätsmängeln, die bei Boeing aufgetreten seien, von großen wie zwei Abstürzen vor rund fünf Jahren in Folge fehlerhafter Technik bis zu kleinen Pannen wie möglicherweise lockere Schrauben im Steuerungssystem nach Weihnachten. Experten wie der frühere Chefermittler der Flugaufsichtsbehörde FAA Jeff Guzetti glauben nun: „Uns bleibt nichts anderes, als den Vorfall im Zusammenhang mit Boeings Qualitätsproblemen zu sehen.“

Prompt forderten Vielflieger ein Ende des vermeintlichen Pannenmodells und schworen gar allen Maschinen des Herstellers ab und verballhornten den alten Werbespruch „If it’s not Boeing,  I’m not going“ ins Gegenteil zu „If it‘s Boeing I’m not going“ (Ist es Boeing, reise ich nicht). Und die Aktionäre dachten ähnlich. Der Börsenwert des Konzerns sackte um gut 30 Prozent oder fast 60 Milliarden US-Dollar ab. Mit aktuell 4500 Bestellungen ist die Maschine der wichtigste Umsatzbringer im Zivilgeschäft des Konzerns.

Doch die Reaktion halten viele für voreilig. „Wer jetzt urteilt, tut das, obwohl er nicht weiß, was genau passiert ist bei Alaska Airlines“ sagt Shakeel Adam, Berater und diplomierter Luftfahrtingenieur. So sei es keineswegs ausgemacht, dass der Grund ein Fertigungsfehler von Boeing war. „Es kann etwas ganz anderes sein wie ein Problem eines Zulieferers oder eine Unachtsamkeit der Wartungsfirma“, so Adam. Einen Konstruktionsfehler von Boeing hält er dagegen für wenig wahrscheinlich. Dafür sorgen aus seiner Sicht gerade die vergangenen Probleme und Abstürze. „Danach sind die Boeing 737 Max und ihre ganze Technik so detailliert durchleuchtet und getestet worden, wie nie ein Flugzeug zuvor“, ergänzt der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt. 

Boeing strenger denn je?

Dem halten Kritiker wie Pierson entgegen, Boeing habe durch seine Art zu Arbeiten die Kontrolle über die Fertigung und die Qualität der Jets verloren. Für mehr Gewinn hatte sich der Konzern seit der Jahrtausendwende als Systemintegrator neu aufgestellt. Die Entwicklung neue Technik, den Bau der Komponenten sowie die damit verbundenen Risiken verlagerte er zu einem großen Teil auf Zulieferer. Und weil Boeing die Einkaufspreise drückte, sparten die oft branchenfremden Firmen auch an der Qualität. Statt neue Modelle zu entwickeln, renovierte Boeing lieber mehrfach alte Modell, wie den 1965 gestarteten Mittelstreckenjet 737. Und obwohl die beiden Abstürze des Modells die Schwächen des Sparkonzepts zeigten, entließ der Konzern in der Coronazeit viele erfahrene Fachleute. 

Doch das allein sei inzwischen keine Erklärung mehr für den Unfall, meinen Experten und Kunden. Zum einen hat sich Boeing aus Sicht der Fluglinien gründlich geändert. „Unsere Techniker haben sich nach den Unfällen die Fertigung und die Qualitätssicherung genau angesehen – und hatten den Eindruck, dass Boeing hier strenger denn je ist“, so ein führender Manager einer europäischen Fluglinie. Dass zuletzt so viele Probleme ans Licht gekommen seien, hält er für keinen Widerspruch, sondern sogar für einen Beweis für den Wandel. „Die internen und externen Prüfer schauen strenger hin – und tragen jeden Verdacht auf eine Abweichung sofort groß an die Öffentlichkeit, auch solche, die bei anderen Herstellern nicht gemeldet würden“, so der Manager. „Doch es geht fast unter, wenn sich eine Sache am Ende als unbedeutender Einzelfall erweist.“ 

Zudem sei gerade wegen der Unfälle der öffentliche Druck gewaltig, glaubt Berater Adam. „Wenn das Management oder die Regulierungsbehörde nachlässig sind, müssen sie damit rechnen, vor den Kongress zitiert zu werden oder ins Gefängnis zu gehen“, so Adam. Das sei anderswo nicht üblich.

Doch egal, warum am Ende beim Alaska-Airlines-Flug ein Teil der Seitenwand abgefallen ist, der Imageschaden wird wohl bleiben. „Jeder denkt sofort, schon wieder die 737 Max“, so ein führender Lufthansa-Manager, „und auch wir müssen uns zum ersten Mal rechtfertigen, warum wir ein solches Modell gekauft haben und an der Bestellung festhalten.“

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Darum sieht auch er für Boeing nur einen Ausweg: endlich ein neues Modell zu entwickeln. Dass dies ein Ende der 737 Max bedeutet und Boeing seinen Auftragsbestand von bis zu 300 Milliarden Dollar abschreiben muss, glaubt er nicht. „Die wird erstmal weiter gekauft und eingesetzt, allein weil die Fluglinien ohne sie weder die steigende Nachfrage noch die immer strengeren Umweltauflagen bedienen können.“

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