WiWo History Tatort Kassel: Stufe für Stufe – hier entstand die erste Fußgängerzone Deutschlands

Die Treppenstraße in Kassel ist ein Symbol des „Wirtschaftswunders“ und erzählt (nicht nur) von den Höhen und Tiefen der Geschichte des Einzelhandels.

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Sie überwindet einen Höhenunterschied von 15 Metern, hat 104 Stufen und ist 275 Meter lang: die Treppenstraße in Kassel – die erste Fußgängerzone Deutschlands. Der untere Abschnitt wurde 1953 als Symbol einer neuen Zeit eingeweiht: Mit der Treppenstraße sollte es in Kassel, im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört, nicht nur architektonisch bergauf gehen.

Zur Zeit des Wiederaufbaus stand in Deutschland die „autogerechte“ Stadt im Vordergrund. Aber die Fußgängerzone widersprach dem Konzept nicht, im Gegenteil: Sie war angeschlossen an den Autoverkehr, von Parkhäusern umgeben. Die Kunden legten nur wenige Schritte zu den Geschäften zurück – und luden nach dem Einkauf ihre Kofferräume voll. Die Treppenstraße bildet mit der Kurfürstenstraße als Verlängerung eine Achse vom Kasseler Hauptbahnhof zum Friedrichsplatz.



Dort befindet sich auch das Fridericianum, das regelmäßig Teile der Documenta beherbergt. 1955, als die weltweit bedeutende Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst zum ersten Mal stattfand, war die Treppenstraße vollendet und wurde von Gebäuden gesäumt, in denen sich Boutiquen wie das Modehaus Chic, später auch Cafés niederließen. Die Fußgängerzone zog auch Filmschaffende an, war eine beliebte Kulisse, zum Beispiel für Heinz Erhardt in „Der letzte Fußgänger“.



Seit drei Jahrzehnten verliert die Treppenstraße, seit 1984 unter Denkmalschutz, als zentraler Ort der Begegnung und des Konsums in Kassel an Bedeutung. 1991 verlagerte sich der Fernverkehr vom Hauptbahnhof zum neuen Fernbahnhof im Stadtteil Wilhelmshöhe. Andere Straßen entwickelten sich zu größeren und beliebteren Einkaufsmeilen, noch dazu barrierefrei, ohne Stufen. Auch der Aufstieg des Onlinehandels half der Treppenstraße nicht. Dennoch halten sich hier immer noch Geschäfte und Restaurants.

Zurück ins Licht der Öffentlichkeit rückte Deutschlands erste Fußgängerzone Olu Oguibe. Der nigerianisch-amerikanische Künstler krönte die Treppenstraße mit einem gut 16 Meter hohen Obelisken, auf dem in Deutsch, Englisch, Arabisch und Türkisch die Inschrift „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“ zu lesen ist – ein kräftiges Symbol für Menschlichkeit gegenüber Geflüchteten. Der Obelisk stand zur Documenta 2017 zunächst am Königsplatz und wurde nach kontroverser Debatte dauerhaft auf der Treppenstraße aufgestellt.



Wer heute also auf den Stufen der Treppenstraße steht und geht, befindet sich also nicht nur in einer architekturhistorisch bedeutsamen Fußgängerzone, sondern wandelt auch auf den Spuren deutscher Wirtschafts- und Kunstgeschichte.




Dieser Artikel erscheint in unserer Reihe WiWo History.

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