Widerworte
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Anstand ist wie Moral – nur krasser

Vielen Menschen fehlt zunehmend eine von Omas alten Tugenden: Der Anstand. Geht dieser verloren, bleibt nur eine Gesellschaft voller windiger Gebrauchtwagenhändler. Eine Kolumne.

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Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen. Dazu gehört auch die Sichtung von Filmen aus den 1980er- und frühen 1990er-Jahren, einer Zeit, in der rein ästhetisch betrachtet sehr viele Dinge geschahen, die manche, die sie damals sahen, bis heute nicht vergessen können. Doch Brian de Palmas Verfilmung des berühmten Tom-Wolfe-Romans „Fegefeuer der Eitelkeiten“ ist von zeitloser Schönheit. Alle intrigieren, lügen, heucheln, verhalten sich maximal unanständig und geraten dadurch in persönliche Katastrophen.

Die Moral des Werkes ist eindeutig: Wer meint, sich durch Unverbindlichkeit, Heuchelei und Hintenrum etwas ersparen zu können, der lädt sich größeren Unbill auf. In diesem Fall landen alle, die sich dabei schuldig gemacht haben – praktisch sämtliche Protagonisten des Romans – am Ende in einem Gerichtssaal, in dem ein über die Bagage in seinem Saal empörter Richter urteilt. Vorher aber erklärt er ihnen noch, was sie hierher gebracht hat, das Fehlen von Anstand nämlich, und falls, wovon er ausgehe, die Anwesenden nicht wüssten, was das sei: Anstand, das ist, „was Ihnen Ihre Großmutter gelehrt hat“. Das gute alte: Das tut man. Das tut man nicht. Klingt einfach? Das war mal.

Das passt in die Zeiten wie die Faust aufs Auge. Zu Beginn der Coronapandemie schien es noch so zu sein, dass die Solidarität und der Anstand untereinander eine breite Basis haben würde. Man klatschte von Balkonen Beifall für Pflegerinnen, das war bemerkenswert. Menschen, die ihr Büro mit dem Homeoffice tauschten, was ja nicht nur in Pandemiezeiten sinnvoll ist, waren noch nicht dem Generalverdacht von Verbänden und kontrollwütigen Abteilungsleitern ausgesetzt, die dahinter nichts weiter als Arbeitsverweigerung zu erkennen glaubten. Die Menschen machten weniger gerichtsfeste Verträge untereinander, gingen aber trotzdem verbindlich miteinander um. Es war nicht so wie im Fegefeuer der Eitelkeiten.

Doch längst wird wieder in die Glut geblasen, und viele treiben es schlimmer als je zuvor. Das ist dumm.

Die Verhaltensökonomie ist keine Spaßdisziplin, sie nimmt ihr Fach ernst, und sie lehrt uns das, was der Richter in Film und Roman sagt: Seid anständig – aus Prinzip. Das sind die AGB menschlichen Verhaltens. Reziprozität – Handeln auf Gegenseitigkeit – heißt immer auch Tit for Tat, dieses für jenes, also erwartbares, verbindliches Handeln.

Die unterschiedlichen Typen eines Teams

Was aber macht man mit Leuten, die sowas nicht wollen, weil die verwöhnte Gesellschaft, in der sie aufwachsen, nur eigene Interessen ernst nimmt, und meint, dass anderes nicht so wichtig sei – was bei den anderen dazu führt, das genauso zu sehen? Die Gesellschaft besteht zunehmend aus windigen Gebrauchtwagenhändlern, die ihre Kunden, wenn die eben gekaufte Schrottmühle nach fünf Minuten schlapp macht, die mit windigen Scheinargumenten vom Hof jagen. Wat willst Du?

Ich bin stärker, hab mehr Kohle, den besseren Anwalt und ich sitze das aus. Es gibt keinen Grund auf dieser Welt, Leute mit dieser Einstellung durchkommen zu lassen. Sie diskreditieren immer mehr als nur sich selbst: Führung, Marktwirtschaft, die Notwendigkeit zur Veränderung. All das steht auf dem Spiel, wenn wir solche Vögel einfach gewähren lassen.

Das ist das, was Oma wusste, und Tom Wolfe sich gemerkt hat und Brian de Palma auch. Seid anständig. Oder rechnet mit Gegenwind, der so stark wird, dass ihr euch nicht halten werdet, ganz gleich, an welche Illusionen ihr euch auch klammert.

Leadership, so befand der weise Warren Bennis, der Vordenker der Disziplin der neuen Führung, Leadership ist in erster Linie eine Charakterfrage. Das gilt, wenn man CEO ist oder Abteilungsleiter oder sich selbst führt, womit erst die Berechtigung dafür erlangt wird, das auch anderen als Dienstleistung anzubieten. Charakter heißt nicht nur Unverwechselbarkeit und Originalität, sondern vor allen Dingen auch moralisches und ethisches Bilden. Anstand ist, wenn man könnte, es aber lässt, Anstand ist, wenn man Dinge benennt, ohne andere klein zu machen. Wem das zu sanft ist: Wir können auch anders.

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Anstand – das bedeutete mal etwas anderes als dem Geschäftspartner mit dem Anwalt zu drohen, damit er sich an Vereinbarungen hält, oder Backpfeifen, wenn man sich mal wiedersieht. Oma wusste, dass sich das Blatt wenden kann. Es wendet sich in Zeiten wie diesen schnell. Seid fair zueinander. Seid einfach anständig. Und, nicht vergessen, zeigt denen, die das nicht sind im Umgang mit anderen, all jenen, die nur groß sind, wenn andere klein gemacht werden, dass sie damit nicht durchkommen.

Tit for Tat. Aber anständig!

Und Oma lächelt.

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