Widerworte
Mit Teilen und Herreschen kannte sich schon Ludwig XIV. aus Quelle: Getty Images

Not macht nicht erfinderisch, sondern dumm, gemein und gefährlich

Not macht erfinderisch? Von wegen. Wo Branchen und Organisationen sich nicht mehr entwickeln, rücken die Menschen zusammen – aber, um sich an die Gurgel zu gehen. Eine Kolumne.

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Früher ging es den Leuten nicht so gut, das war nicht schön, aber es gab eben noch Luft nach oben. Heute geht es vielen sehr viel besser, aber das mit der Luft nach oben ist überschaubar. Der Westen, Europa, das reiche Deutschland, es scheint seit Jahren den Zenit erreicht zu haben. Es ist, als wenn die Generationen vor uns und wir auch einen hohen Berg erklommen hätten, die Luft ist dünn, jeder Millimeter irgendwann hart erkämpft.

Mit dieser Höhenkrankheit kämpfen viele und einige spekulieren auch damit, politisch, strategisch, führungstechnisch. Von Absturz ist die Rede und von Rückzug. Wenn erst wieder genug Leute unten sind, so die These, dann gibt es auch wieder Hoffnung. Denn wir wissen ja: Die Not macht erfinderisch.

Nur stimmt das auch?

Viele Branchen sind in den letzten Jahrzehnten in Nöte geraten, in Existenznöte. Die Not hat aber die allermeisten nicht erfinderisch gemacht. Ein erheblicher Teil hat sich anderswo umgesehen, was praktisch nie Transformation, also Veränderung, war, sondern der komplette Ausstieg – statt Management halt dann Senner. Und die, die blieben, sind selten erfinderischer als ihre verblichenen Kollegen, aber die Not hat sie ängstlicher, nervöser gemacht, auch aggressiver und rücksichtsloser.

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von Max Haerder, Sonja Álvarez, Daniel Goffart, Florian Kistler, Christian Ramthun

Wo Branchen und Organisationen sich nicht mehr entwickeln – und das gilt natürlich auch für Kulturen und Gesellschaften –, rücken die restlichen Mitglieder zusammen, aber nicht, um sich gegenseitig zu wärmen, sondern um sich an die Gurgel zu gehen. Die gefährliche Nähe hat der Kulturwissenschaftler Marshall McLuhan am Beispiel seines „Global Villages“, der das Internet vorwegnehmenden These einer globalen Kultur und Erlebniswelt, als Rückkehr zur Stammesgesellschaft beschrieben. In der, so McLuhan, wären „Mord und Totschlag die Regel gewesen“. Kein bisschen Erfindergeist also in der Gesellschaft, die immer wieder glaubt, die Rückkehr an die gemeinschaftliche Notsuppenküche würde den Gipfelstürmern schon ihr Mütchen kühlen.

Die große Transformation, von der so viele reden, aber doch meist nur den Bestand ihres Teils dran meinen, diese große Transformation ist nicht der Wechsel vom Verbrennungsmotor zur E-Mobilität, auch nicht der Abschied von der Ölheizung zugunsten der Solarpanels am Dach und auch nicht der Auszug aus dem alten Büro ins Homeoffice. Der entscheidende Teil dieser Transformation besteht in der geschichtlich nie vorgelegten Übung, aus freien Stücken, aus reiner Vernunft und Einsicht, sich in guten Zeiten für bessere und pragmatischere Dinge zu entscheiden, ohne Leidenschaft und auf der Grundlage kritisch begutachteter Tatsachen. Not macht gemein, sie lässt uns Kollegen und Nachbarn denunzieren, Schwächere manipulieren und benachteiligen, Junge und/oder Alte ausgrenzen und alles um uns als Bedrohung erscheinen. Not macht dumm, gemein und gefährlich. Und sie entwickelt einen Sog, in dem Menschen, die nicht dumm, gemein und gefährlich sind, sich nicht anders zu helfen wissen, als sich genau so zu verhalten.



Wer das will, hat ein Interesse: Aus der Not anderer Kapital zu schlagen; wenn zwei – oder zweihunderttausend – sich streiten, dann freut sich der Dritte. Wenn die Leute einander misstrauisch begegnen, dann sind sie miteinander beschäftigt, meine Rolle als Chefin und Chef bleibt davon unberührt. Divide et impere, das alte Habsburger Motto: Teile und Herrsche, das heißt heute: Spalten und Herrschen.

Königsmechanismus nannte das der Denker Norbert Elias. Ein Herrschaftstrick, den schon der alte Ludwig XIV. in Versailles anwendete. Der regierte so lange, weil sein intriganter Hofstaat, zerfallen in Lager und Parteien, sich untereinander nichts gönnte. Jeder gegen jeden, das nimmt ja auch in unserer Gesellschaft zu, und in vielen Unternehmen ist das die Leitkultur. Da bleibt keine Zeit, dem König ein paar Fragen zu stellen. Das Endergebnis heißt Absolutismus, dann Terror.

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