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Gleitzeit in der Schule: Jetzt entscheiden Jugendliche selbst, wann der Wecker klingelt

Das Gymnasium Plochingen testet den Schulbeginn nach Lust und Laune der Schülerinnen und Schüler. Wird das eine gute Berufsvorbereitung – oder ist es einfach schlechter Unterricht? Eine Kolumne.

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Dass bei deutschen Schülerinnen und Schülern der Wecker häufig schon gegen 6.45 Uhr klingelt, ist einfach jugendfeindlich. Wir alle können uns daran erinnern, wie entsetzlich es war, aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden. Gerade so schön geträumt. So begann der Tag schon mit einem Schlag aufs Gemüt. Wenn einige noch mit den Falten ihres Kopfkissens im Gesicht benommen in der Schulbank kauerten und darauf warteten, dass dieses Stück vergeudete Lebenszeit schnell an ihnen vorbei rasen möge. Vor allem die erste Stunde im Winter. Dieses Elend in der Dunkelheit. Dieser Wunsch, zurück ins Bett krabbeln zu dürfen. Diese Frage: Ist das das Leben?

Und in der Tat – in der Regel beginnt der Unterricht an deutschen Schulen ja etwa um acht Uhr; spätestens meist 8.30 Uhr. Aber spätestens. Alles danach fühlt sich irgendwie verlottert an. Leider. Neurobiologen wissen seit Jahren: Die Schule beginnt zu früh. Die innere Uhr der jungen Leute macht das einfach nicht mit. Sie umzustellen, ist nicht so leicht.

Das Kuriose ist: Kinder sind morgens früher fit als Teenager aus der Mittel- und Oberstufe. Deutschlandweite Erhebungen zeigen: Mit der Pubertät, mit elf, zwölf Jahren, verlagert sich unser innerer Zeitrhythmus im Durchschnitt um einige Stunden nach hinten. Bis wir etwa zwanzig Jahre alt sind. Danach werden wir tendenziell wieder zu Frühaufstehern. Wieso das so ist, ist offenbar noch nicht erforscht.

Falsche Volksweisheiten rund um den Schlaf

Und ich sage es einmal so: Ist ja auch egal, warum. Fakt ist: Gerade in der Zeit, in der bei uns plötzlich der Abnabelungsprozess beginnt, wir uns neu entdecken und viele das Gefühl haben, wahrlich Besseres zu tun zu haben, als einer vermeintlich spießigen Schule nach dem Takt zu tanzen, haut das frühe Aufstehen besonders fest rein.
Geben wir es zu: Die Schulzeiten richten sich vor allem nach dem Berufsleben der Eltern. Damit die ihren Nachwuchs in guten Händen wissen, wenn sie selbst aus dem Haus gehen, damit sie ihre Kinder sogar noch selbst zur Schule kutschieren können.

Wie das Gleitzeit-Modell in Plochingen funktioniert

Doch sind Schüler im Teenageralter nicht langsam alt genug, um sich in der Schule, im Zuhause und dazwischen allein zu organisieren? Schutz vor Aerosolen, weniger CO2-Belastung in der Klassenzimmerluft, ein ausgewogenes Essensangebot in der Schulkantine: Wissenschaftliche Erkenntnisse zu gesundheitsförderlichen Maßnahmen setzen sich in unseren Schulen leider nur schwer durch.

Da will es das Gymnasium im baden-württembergischen Plochingen in einem Punkt jetzt wissen. Es führt probeweise die Schul-Gleitzeit ein. Ein paar Wochen nur. Und nur in einer einzigen Klasse. Seit Anfang April bis Pfingsten. Ein alter Schulfreund von mir ist dort Lehrer, macht bei diesem von seinem Kollegen ins Leben gerufenen Versuch mit und hat mir das Prinzip sozusagen exklusiv erklärt.
Denn das Plochinger Modell funktioniert anders als bisherige flexible Schulstartmodelle, wie etwa jenem, bei dem die Schüler je nach Schlafbedürfnis in eine Klasse gehen, die statt zur ersten Stunde erst zur zweiten antanzen muss, während andere Mitschüler desselben Jahrgangs sich für die Frühstartklasse entschieden haben.

In Plochingen ist es theoretisch jedem Schüler und jeder Schülerin der Testklasse des siebten Jahrgangs an zwei für alle festgelegten Tagen pro Woche möglich, morgens spontan zu entscheiden, ob sie sich früh aus dem Bett schälen und an einer Doppelstunde Unterricht teilnehmen oder lieber liegenbleiben und erst zur dritten Stunde erscheinen. Betroffen sind hier die Hauptfächer Deutsch und Englisch. Das Ganze allerdings unter einer heiklen Bedingung: Wer am Gleitzeit-Morgen nicht zum Unterricht in der Schule erscheint, muss den für diese Doppelstunde vom Lehrer angekündigten Lernstoff selbständig erarbeiten. Nicht zwangsläufig direkt an diesem Gleitzeit-Vormittag, aber eben bis zur nächsten Stunde des betroffenen Faches.

Und da stellt sich mir schon die Frage: Wird dieses Gleitzeitmodell als Ausschlafmodell am ehesten von jenen Schülerinnen und Schülern genutzt, denen selbständiges Arbeiten ohnehin liegt, oder doch eher von denen, die eine Aversion gegen Schule haben, so wenig wie möglich hinwollen und denen vielleicht sogar gerade deshalb eine individuelle Betreuung durch die Lehrer in der Schule besonders entgegenkäme, was den Ausbildungserfolg angeht. Mit anderen Worten: Bleiben am Ende die Falschen zuhause?

Viel Erfolg an die Stundenplan-Ersteller!

Dazu der am Plochinger Gymnasium bei diesem Gleitzeit-Versuch federführende Lehrer Till Richter: „Die Gefahr besteht natürlich, aber gerade dafür ist ja die Möglichkeit da, Schülerinnen und Schüler, die mit diesem Modell überfordert sind, zur Anwesenheit in der eigentlich freiwilligen Lernzeit vor Ort zu verpflichten. Dann werden sie sogar noch individueller betreut als im normalen Unterricht, weil ja weniger Mitschüler da sind. Damit bietet das Modell keinen Nachteil, sondern vielmehr ein zusätzliches Werkzeug zu mehr Bildungsgerechtigkeit.“

Nicht nur von den Schülerinnen und Schülern verlangt das Modell bei aller Flexibilität einiges an Selbstdisziplin. Auch die Stundenplaner in den Hinterzimmern müssen mit kühlem Kopf rechnen. Denn sollte der Test erfolgreich sein und alle in die Probephase einbezogenen Jugendlichen und Lehrkräfte rufen „Juhu!“, dann gilt es: Dann könnten ja eigentlich bei mehreren Klassen die Gleitzeitregeln eingeführt werden. Vielleicht ja sogar an mehreren Schulen bundesweit. Mit der Maßgabe, dass die ersten beiden Schulstunden immer als Doppelstunde unterrichtet werden. So wie längst in Plochingen.

Viel Erfolg beim Planen! Denn: Wenn nicht von Montag bis Freitag die ersten beiden Stunden frei sind und demnach nicht alle Schultage um 9.40 Uhr beginnen, sondern womöglich nur zwei oder drei Morgen pro Woche – werden dann die Gleitzeit-Schüler in der Lage sein, einen erholsamen Schlafrhythmus zu etablieren oder wird deren innere Uhr durch das Hin-und-her zwischen frühem Wecker und gnädigem Wecker vollends durchgeschüttelt?
Immerhin: Es obliegt den Schülerinnen und Schülern, das alles herauszufinden. So wie es auch im Jobleben später darum gehen wird, eigenen Bedürfnissen durch wegweisende Entscheidungen gerecht zu werden. Mehr Vorbereitung auf die Lebenswirklichkeit.

Dass in den sozialen Medien über den Plochinger Weg von Hunderten schon heiß diskutiert wird, zeigt, welche Relevanz die Idee hat. „Ich bin früher auch zur ersten Stunde in die Schule. Und habe es überlebt“, heißt es von denjenigen etwa, die kritisch kommentieren. Doch überleben reicht heute eben nicht mehr für eine erfolgreiche Ausbildung. Schule richtet sich heute stärker als früher nach den Bedürfnissen, Interessen und Talenten jedes und jeder Einzelnen – und ganz sicher trotzdem immer noch zu wenig.
Deutschland wird vom Plochinger Gymnasium lernen. Allein für diesen Mut gebührt den Machern der Schule Anerkennung. Selbst wenn es am Ende heißt: Bitte wieder alle anschlurfen um 7.50 Uhr. Dann ist man dort immerhin schlauer.

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Schon in der Vergangenheit hat sich die Schule durch eine besondere Beteiligung der Schüler hervorgetan. Als es nämlich um die mögliche Umbenennung des Gymnasiums ging. Nach Monaten mit Namenseinreichungen, Diskussionen um die Ideen, Festlegungen der Abstimmungsmodalitäten und Werbung für die Aktion stand am Ende nach dem Voting fest: Es bleibt beim alten Namen „Gymnasium Plochingen“. Jetzt aber immerhin basisdemokratisch durch die Schulgemeinschaft abgesichert. Und das Gymnasium Plochingen macht sich jetzt eben mit der Schul-Gleitzeit einen Namen.

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