Tauchsieder

Besinnungslos (un-)moralisch

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Scheinmoral auf offener Bühne

Oder die deutschen Luxusgladiatoren, die keine gelbe Karte riskieren mögen für das, was ihnen wahnsinnig wichtig ist, weil ihre „sportlichen Träume“ (Thomas Müller) ihnen halt noch einen Tick wichtiger sind. Oder Robert Habeck, der deutsche Wirtschaftsminister, der noch vor einem halben Jahr in Doha buckelte, um den Scheichs seine unendliche Dankbarkeit für ihre Hilfe zur Lösung des deutschen Gasproblems zu bezeigen – und der nun ausgerechnet von einem Fußballer politisches Rückgrat einfordert: Einer wie er würde es „darauf ankommen lassen“, so Habeck – und an Manuel Neuers Stelle natürlich die von der Fifa verbotene Kapitänsbinde tragen: „Es wäre ein moderater Protest.“

Oder Harry Kane, der englische Stürmer, der sich vor dem Spiel gegen Iran seine halbe Million schwere Rainbow-Rolex überstreifte, um seiner verqueeren Moral Ausdruck zu verleihen. Oder Rewe, der superwoke Lebensmittelkonzern, der seit 14 Jahren zu den Sponsoren der Nationalelf zählt, dem aber natürlich erst jetzt auffallen konnte, dass es sich bei der FIFA um einen korrupten Sauhaufen handelt und dass die Menschenrechte in Katar nicht mitteleuropäischen Standards genügen – also her mit der Schlagzeile und Schluss mit der (längst beschlossenen) Zusammenarbeit!

Genug. Die Liste der Peinlichkeiten ließe sich unendlich fortsetzen. Die Scheinmoral steht als Ensemble symbolischer Gesten grell ausgeleuchtet auf offener Bühne – und aus den Kulissen tritt feixend Mephistopheles hervor, um ihre Exponenten der Reihe nach als Musterbeispiele der Verlogenheit vorzuführen. Aber warum ist das so? Warum müssen diese Gesten missglücken?

Kanzler Olaf Scholz agiert ohne Gespür für die historische Dimension des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Er zaudert sich durch die „Zeitenwende“ – und riskiert Deutschlands Restreputation in Osteuropa.
von Dieter Schnaas

Erstens, weil sich in ihnen eine moralische Eindeutigkeit ausdrücken soll, die es in einer moralisch uneindeutigen Welt nicht gibt. Zweitens, weil vereinzelte, situationsbedingte Gesten („Wir lassen uns den Mund nicht verbieten“) eine punktuelle, opportunistische Moral annoncieren, die die Aufmerksamkeit des Publikums geradezu hinlenkt auf den Mangel eines generalisierbaren, konsistenten moralischen Handelns. Und drittens, weil das Gefälle zwischen der symbolischen Freiheit, die sich Menschen in liberalen Demokratien herausnehmen können („Regenbogen-Armbinde“) und der Freiheit, die sich Menschen gegen Autokratien herauszunehmen wagen (Nationalspieler aus Iran, die die Nationalhymne nicht singen) unüberbrückbar groß ist.

Die moralische Indifferenz fängt im Bereich des Politischen etwa bei der Frage an, wie man hierzulande auf Russland, China und Katar blickt. Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist ein seltenes Beispiel moralischer Eindeutigkeit: Russland hat EU-Europa zu seinem Feind erklärt und der Bundesrepublik mit dem Atomtod gedroht, greift unsere Werte in Europa an – und doch gibt es in Berlin noch immer Stimmen, die einen Ausgleich mit Putin suchen. Und doch kommt niemand beim DFB auf die Idee, Manuel Neuer in Katar mit einer gelb-blauen Kapitänsbinde auszustatten, um Solidarität mit der Ukraine zu annoncieren. Warum eigentlich nicht? Nirgends in Europa sind die Menschenrechte derzeit stärker eingeschränkt. Kein politisches Anliegen ist geeigneter, moralisches Empfinden, moralisches Handeln und moralisches Symbolhandeln sinnfällig kurzzuschließen.

China wiederum hat sich Hongkong einverleibt und droht Taiwan zu erobern, es radiert die Kultur der Uiguren aus und sperrt Millionen Menschen ein, weil Generalsekretär Xi zu nationalstolz und kontrollwütig ist, um seine Untertanen mit Biontech oder Moderna impfen zu lassen. Aber China hat in den vergangenen 30 Jahren eben auch, ganz anders als Russland, das mit Abstand erfolgreichste Modernisierungsprojekt der Menschheitsgeschichte initiiert. Es hat in enger Zusammenarbeit mit Europa die Lebenschancen von 500 Millionen Menschen maximiert – übrigens auch aller Frauen. Und es hat sich, anders als die USA, noch keines völkerrechtswidrigen Krieges schuldig gemacht. Warum also ist China seit zwei, drei Monaten der Deutschen Lieblingsfeind?

In Katar wiederum wird die Hälfte der Bevölkerung religionskulturell kleingehalten, es werden Schwule eingesperrt, Bangladeshi wie Sklaven gehalten – aber das LNG-Gas, das hätten wir doch schon gerne. Und natürlich die fossilen Milliarden, die Gas- und Öleinnahmen, mit denen die Kataris (und Saudis und Emiratis) unsere Dax-Konzerne päppeln. Oder unsere Fußballklubs. Oder Terroristen, die sich mitten unter uns in die Luft sprengen. Oder Formel-1-Events und Louvre-Museen. Oder klimatisierte Retortenstädte, in denen sich unsere Influencer geschäftsmäßig tummeln und in denen wir so gern zwischenlanden für zwei, drei Tage.

Kurzum, die Kataris haben völlig Recht: Die punktuelle Wucht der Kritik an ihrem Land in den acht Wochen vor, während und (mutmaßlich) nach der Fußball-Weltmeisterschaft stellt vor allem ihre Absender bloß – zumal dann, wenn sich zwischen primär deutschland-adressierter Augenblicksgeste und deutschland-interessierter Realität, zwischen der  Moral der Kapitänsbinde und der Moral der WM-Teilnahme (plus Gas-Lieferungen plus Dax-Milliarden) – ein Abgrund des Selbstbetrugs auftut.

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Ein Abgrund, der umso weiter aufreißt, weil eine luxurierend expandierende „Wozu-Freiheit“ in liberalen Demokratien sich inzwischen in müden, selbstkongratulatorischen Gesten zu erschöpfen scheint, jedenfalls so schwach ist, dass ihre Fußballverbände sie nicht einmal mehr gebrauchen, um sich der Fifa zu entledigen – während dieselben liberalen Demokratien nurmehr einen schwachen Sinn dafür entwickeln, dass die elementarsten „Wovon-Freiheiten“ - nicht zu hungern, nicht zu frieren, sich nicht zu ängstigen, nicht in der Macht eines anderen zu stehen – in diesen Wochen vor unser aller Augen und in unmittelbarer Nachbarschaft umfassend eingeschränkt sind. Die traurige Doppelbotschaft der Nationalspieler: Wir lassen uns den Mund von der Fifa eben doch verbieten. Und reißen ihn schon gar nicht auf, wenn’s moralisch unbedingt geboten ist.

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