Tauchsieder

Wann und wie endet der Krieg?

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Wie könnte der Krieg enden?

Vor allem auf der Seite Russlands vermag der Historiker keine Bereitschaft zu einer Friedensinitiative erkennen, im Gegenteil: „Wladimir Putins bewusste Risikoentscheidung, mit der gesteigerten Kriegsmobilisierung den Krieg mitten in die russische Gesellschaft hineinzutragen, deutet auf eine größer werdende Eskalationsbereitschaft hin.“ 

Was bedeutet das im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Krieges – und sein mögliches Ende?

Erstens: Das Beispiel der „Münchener Konferenz“ von 1938 lehrt, dass die Kommunikation von Schwäche gegenüber einem expansionshungrigen Diktator verhängnisvolle Folgen haben kann: Adolf Hitler wertete die Bereitschaft Großbritannien und Frankreichs, dem „lieben Frieden“ zuliebe die Souveränität und territoriale Integrität der Tschechoslowakei zu opfern, geradezu als Aufforderung, seine kriegerischen Expansionspläne zu forcieren. Der Fehler der Alliierten bestand nicht darin, dass sie der Diplomatie eine Chance gaben und auch nicht darin, Konzessionen in Aussicht zu stellen – sondern darin, „keine Antwort auf einen Gegner zu besitzen, der nicht bereit war, sich auf eine solche Lösung einzulassen“, schreibt Leonhard, „und dessen Aggression durch die einseitige Konzession der Gegenseite nicht eingedämmt, sondern Im Gegenteil angefeuert wurde.“ 

Zweitens: Das Beispiel der „Münchener Konferenz“ lehrt auch, dass sich Großbritannien und Frankreich als exponierte Vertreter der internationalen Ordnung mit ihrem „Appeasement“ enorme Legitimationsverluste einhandelten. Die Völkerbund-Idee erodierte damals so gut wie das UN-Leitbild heute (die widerspruchsvolle Gleichwertigkeit von Völker- und Menschenrechten): Japan eroberte die Mandschurei (1931), Nazi-Deutschland kündigte nach Japan seine Mitgliedschaft im Völkerbund (1933), Italien zog sich aus der Genfer Konvention zurück (Abessinienkrieg 1935/36), Hitler probte im Spanischen Bürgerkrieg den Ernstfall (1936 ff.) – und nun also opferten Großbritannien und Frankreich einem Terrorregime ein anerkanntes Mitglied des Völkerbundes! Schon vielen Zeitgenossen war klar: München ist auch deshalb ein verhängnisvolles Signal: ein „fauler Frieden“, der Hitler ermuntert und die internationale Ordnung diskreditiert, an deren Abbau Deutschland, Japan und Italien arbeiteten.

Drittens: Hitler durfte sich nach „München“ umso mehr ermuntert fühlen, seine Kriegspläne voranzutreiben, weil die Siegermächte des Versailler Friedens (1919) uneinig und widerspruchsvoll auf seine Revisionspläne reagierten: Als Deutschland die allgemeine Wehrpflicht wieder einführte (1935), die den Bestimmungen des Friedensvertrags klar widersprach, antworteten Großbritannien, Frankreich und Italien einerseits mit der Bildung der „Stresa-Front“, während andererseits die Briten mit Nazi-Deutschland ein Flottenabkommen aushandelten (1935). Kein Schelm, wer hier in analogisierender Absicht an das EU-Mitglied Ungarn oder den Nato-Staat Türkei denkt.

Viertens: Die hohe Zahl der Opfer vor allem seitens der Ukraine und der von Russland geschichtspolitisch aufgeladene Kampf um historische Räume, Interessensphären, Großmachtansprüche (der im Widerspruch zur internationalen Rechtsordnung steht), der Ressourcenzweikampf zwischen dem Westen und der „antiliberalen Internationalen“ (Ralf Fücks), die weitreichenden weltweiten Implikationen und nicht zuletzt der Anspruch auf „Gerechtigkeit“ nach dem Völkerrechtsbruch Russlands – sehr viele Verletzungen und Interessen sehr vieler Seiten, materieller, strategischer und ideeller Art, stehen einem Waffenstillstand, zumal einem Frieden im Wege.

Gemessen an der Politik und Mentalität der Merkel-Jahre ist die Sicherheitspolitik unter Scholz bemerkenswert. Dennoch besteht kein Anlass zu Selbstzufriedenheit. Ein Essay.
von Ralf Fücks

Der Gedanke eines „gütigen Vergessens“ auf Seiten der Ukraine, mit denen die Kriegsparteien im 17. Jahrhundert den Westfälischen Frieden aushandelten, erscheint derzeit genauso abwegig wie der Gedanke, dass Russland in der Ukraine einen „iustus hostis“ erblickt, einen gerechten Feind, mit dem es auf Augenhöhe in Waffenstillstandsgespräche einsteigt, einen Frieden anstrebt, gar eine Aussöhnung anstrebt. Zumal Potentat Putin keine Verheerungen auf seinem Territorium befürchten und keine Rücksicht auf (bisher überschaubare) Belastungen der Bevölkerung nehmen muss, schon gar nicht auf das Meinungsbild der Russen: Seiner Bereitschaft zur Verlängerung des Kriegs und zum Ausbau der Kriegswirtschaft, zur geschichtspolitischen Ausbeutung postsowjetischer Phantomschmerzen und zur Konstruktion panrussischer Zarenreichsfantasien, kurz: zur gewaltsamen Eroberung weiterer Gebiete steht – abgesehen von einer Palastrevolution und einer entschlossenen Reaktion des Westens – nichts im Wege. 

Fünftens: Verschlechtert sich die Lage der Ukraine an der Front, verstetigt sich die Ressourcenkrise des Landes, steigert sich die Erschöpfung der Soldaten und der Zivilbevölkerung in der Ukraine – so deutet das noch nicht zwingend auf eine schnelle Niederlage hin. Im Gegenteil: Es wäre wahrscheinlich, dass die Ukraine mit dem Verweis auf die Zahl der Opfer und die Opferbereitschaft der Bevölkerung, vor allem aber mit Blick auf das ihr drohende Schicksal der Zwangsrussifizierung ihre Durchhaltefähigkeit noch einmal erhöhte, dass die Gewalt noch einmal an Intensität gewänne, dass die Verluste noch einmal zunähmen, dass die Hoffnung auf eine überraschende Wende, auf mehr Munition oder auf eine Wunderwaffe noch ein letztes Mal zirkulierte – dass der (Opfer-)Mut der Verzweiflung regierte. Noch ist es nicht soweit.

„Munitionskrisen waren in neuzeitlichen Krisen geradezu endemisch“, schreibt Historiker Leonhard, doch die meisten „Entscheidungsschlachten“ (von „Kunersdorf“ bis „Stalingrad“) führten gerade keine Entscheidung herbei, sondern verlängerten den Krieg. Die „materielle Überlegenheit“ einer Partei „wirkte sich in vielen Kriegen eher langfristig aus“, so Leonhard: „Erst eine anhaltende Versorgungskrise konnte den Glauben der Soldaten an die Kompetenz der eigenen Führung erschüttern“ – in diesem Fall wäre damit vor allem die fehlende Kompetenz des Westens gemeint, eine bisher entschlossen verteidigungsbereite Ukraine mit ausreichend Waffen zu versorgen.

Sechstens: Der Westen hat die Ukraine trotz seiner technologischen und wirtschaftlichen Überlegenheit nicht in die Lage versetzen wollen, gegen die russischen Angreifer und Besatzer in die (Gegen-)Offensive zu kommen – es spricht daher viel dafür, dass die Ukraine am langen Ende des Krieges mit „eingefrorenen“ territorialen Verlusten wird leben müssen – und dass speziell die EU das bekommt, was sie verdient: einen „faulen Frieden“ für Europa. Leonhard schreibt, dass die Zahl der Kriege, die mit Friedensverträgen und Friedenskonferenzen endeten, vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert von 30 Prozent auf 80 Prozent stieg, dann wieder sank auf 40 Prozent – und nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch bei 15 Prozent liegt. Israel/Palästina, Iran/Irak, Indien/Pakistan, Südkorea/Nordkorea, Bosnien-Herzegowina – die Liste ließe sich leicht fortsetzen: alles schwelende Konflikte. Wer auch immer jetzt ein „Minsk III“ ins Spiel bringt, verkennt daher nicht nur Putins Kriegsziele. Er leistet auch einen doppelten Offenbarungseid: Die Ukraine hat diesen Krieg mit Billigung des Westens verloren – und Völkerrechtsbrüche werden von den Hütern der internationalen Ordnung (mal wieder) geduldet, sogar vor der eigenen Haustür und zu ihrem eigenen Schaden. Und er verkennt, dass mit einem Waffenstillstand nur eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erreicht, die Lage keinesfalls befriedet wäre, zuletzt für die Menschen in den eroberten Gebieten, aber auch nicht in der Ukraine, nicht in Georgien und Moldawien, nicht in Europa: „Jeder Waffenstillstand unterhalb eines formalen Vertrags verlängert das mögliche Revisionskalkül“, schreibt Leonhard, „und macht damit die Gewaltanwendung auch unterhalb der Schwelle eines großen Krieges als Option wahrscheinlicher.“ 

Fazit: Die endemische Geschichtsblindheit in den politischen und diplomatischen Führungsetagen des Westens ist und bleibt auch am Übergang ins dritte Kriegsjahr die Basisschwäche des Westens, darauf ist an dieser Stelle seit (mehr als) zwei Jahren wieder und wieder hingewiesen worden: Die Regierenden haben Karriere gemacht mit dem illusionären Generalgedanken an ein „Ende der Geschichte“, und die gedanklichen Pfadabhängigkeiten der politischen Kaufmannslogik sind in Brüssel und Berlin seit drei Jahrzehnten so mächtig geworden, dass man mit der machtvollen Rückkehr von Jacob Burckhardts „Potenzen“ immer noch nicht wirklich rechnen will: Kultur, Religion, Staat, Nation und Geschichtspolitik waren und sind die entscheidenden „Treiber“ und „Macher“ von Geschichte – und wenn Europa davor die Augen verschließt, ist es schon sehr bald zu einer Rolle als Zaungast dieser Geschichte verdammt.

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Oder, um es noch einmal mit Jörn Leonhard zu sagen: „Erodiert der Wille des Westens,… Russland zur Einsicht zu zwingen, dass eine Aggression militärisch nicht siegreich sein kann, wird dies zur wichtigsten Ressource für Russland werden… Die Folgen könnten verheerend sein, nicht nur für die Sicherheit der europäischen Demokratien, sondern für die Glaubwürdigkeit jeder internationalen Ordnung nach Regeln in einer multipolaren Welt.“  


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