Tauchsieder
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Wann und wie endet der Krieg?

Seit zwei Jahren verheert Russland die Ukraine. Und noch immer fürchtet Europa eine Niederlage Putins mehr als seine Mordlust, seinen Imperialismus. Für die EU scheint maximal noch drin, was sie verdient: ein fauler Frieden. Eine Kolumne.

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Eine Farce zum Jahrestag, auch das noch. Das ukrainische Militär musste in der vergangenen Woche nach langem Kampf die Industriestadt Awdijiwka im Donbass verloren geben. Russland wirft deutlich mehr Soldaten, mehr Waffen, mehr Munition an die Front als die vom Westen unterstützte Ukraine, so geht es schon seit Wochen, Monaten, zwei Jahren: Der Westen agiert zu spät und engagiert sich zu wenig, entschieden unentschieden, wieder und wieder, weil etwa Olaf Scholz die „Zeitenwende“ zwar ausgerufen hat, sie aber den Deutschen vor allem ersparen will, weil der Kanzler und seine Chef-Einflüsterer die Verunsicherung der Deutschen lieber merkelmäßig bewirtschaften als helmutschmidthaft adressieren – und einen empfindlich getroffenen Potentaten im Kreml immer noch mehr fürchten als dessen Mordlust und imperialen Wahn. 

Also kein „Taurus“ für die Ukraine. Oder doch? Die Ampelfraktionen wollen im Bundestag die „Lieferung von zusätzlich erforderlichen weitreichenden Waffensystemen“ beschließen, aber auf die Frage eines CDU-Abgeordneten, ob damit der „Taurus“ gemeint sei, antwortet Verteidigungsminister Boris Pistorius: „Das kann ich nicht beantworten.“ Die Ampelfraktionen halten in ihrem Antrag außerdem fest, dass die Ukraine militärisch befähigt werden muss, ihr Territorium vollständig zurückzuerobern, einschließlich der Krim – aber SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagt, die Fokussierung der Debatte auf bestimmte Waffen helfe da nicht weiter, schon Leopard-Panzer hätten den Krieg nicht wenden können, wichtig sei die „Gesamtschau“.

Also ohne Taurus die Krim erobern? Gewissermaßen aus der Ferne und aus der Defensive heraus? Es ist absurd.

Die Ukraine ist bei ihrem Kampf gegen Russland auf internationale Hilfe angewiesen. Doch die kommt zwei Jahre nach Kriegsbeginn immer seltener und weniger umfangreich – wie diese Grafiken zeigen.
von Alexander Voß

Die „Gesamtschau“. Ein gutes Stichwort. Die Europäische Union, mindestens siebenmal wirtschaftskräftiger als Russland, hat es in 24 Monaten nicht mal vermocht, für ausreichend Munition zu sorgen – eine Blamage, die die Ukraine jeden Tag viele Menschenleben kostet. Die Soldaten stehen und sterben im Kugelhagel einer russischen Artillerie, die seit Wochen geschätzte drei bis sieben Mal mehr Geschosse abfeuern kann als der Gegner – das ist nicht tapfer, nicht heldisch, sondern demütigend, menschenunwürdig, tödlich. 

Zynische Bekenntnisse – und kein Taurus

Angesichts der Lage an der Front klingen die zuletzt abermals bekräftigten Bekenntnisse von Deutschland und Frankreich (das peinlich wenige Waffen liefert), der Ukraine dauerhaft zur Seite zu stehen, kaum mehr hohl, sondern fast schon zynisch: Welche „Sicherheitsgarantien“ könnte Deutschland der Ukraine schon geben? Die elementarste Sicherheitsgarantie – territoriale Unversehrtheit – kann eingedenk der eklatanten militärischen Un-Fähigkeiten Deutschlands nicht gemeint sein. Und doch hat die Ampel sie in ihren Antrag aufgenommen. Und doch beglückwünscht sie sich zu realitätsfernen Selbstansprüchen

Die Welt als Wille und Vorstellung.

Also kein Taurus für die Ukraine. Obwohl die Verteidiger mit der Waffe angeblich Versorgungslinien und Kampfzentralen Russlands, auch die für Russlands Besatzer und Angreifer so wichtige Kertsch-Brücke zur Krim zerstören könnten. Obwohl? Weil sie es könnten. Bloß nicht Putin reizen! Darum ging es den kaufmannslogisch verbildeten Karrierediplomaten im Kanzleramt und vielen antiamerikanisch sozialisierten Russlandfreunden zumal in der SPD-Fraktion von Anfang an – und darum geht es ihnen heute noch: Irgendwann ist der Krieg vorbei, und dann müssen wir mit Putin wieder ins politische Geschäft kommen, einen Waffenstillstand, einen Übergangslösung, einen Frieden aushandeln, hilft ja nichts!



Wirklich? Putin kommuniziert seine Ziele seit zehn, zwölf Jahren, in Worten und Taten: Wiederherstellung des russischen Großreichs. Auslöschung der Ukraine. Einverleibung der baltischen Staaten. Revision der internationalen Rechtsordnung. Krieg dem Westen. Tod den liberalen Demokratien. 

Fünf Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, am 3. April 2022, tauchte daher an dieser Stelle zum ersten Mal die Frage auf: „Tun wir genug dafür, dass Putin diesen Krieg verliert?“ Der deprimierende Befund: Die europäische Regierungspolitik hat den damaligen Zweifel, sich der Dimension der „Zeitenwende“ bewusst zu sein, seither permanent bestätigt – bis heute

„Wir dürfen ihn (Putin), sein Regime und seine ideologiefesten Unterstützer jetzt nicht davonkommen lassen. Wir müssen alles dafür tun, dass Putin diesen Krieg verliert – und zwar gründlich verliert, also so, wie die Sowjetunion und die USA im 20. Jahrhundert ihre Kriege in Afghanistan und Vietnam verloren haben: als gedemütigter Scheinriese, zum Rückzug gezwungen – sofern die Ukraine bereit ist, diesen Weg zu gehen. Unklare Territorialansprüche und Bündnisbeitrittsmoratorien, ein strittiger Neutralitätsstatus und eine aufgeschobene EU-Perspektive dürften (nicht nur) aus Sicht der Ukraine immer nur zweitbeste Lösungen sein – allenfalls erträglich, um den Horror des Kriegs zu beenden.

Putins Russland will genau das: eine semisouveräne Ukraine, die seinen „Sicherheitsinteressen“ unterworfen ist und im Schatten seiner dauernden Drohgebärden steht, einen permanenten Unruheherd mit annektierten Gebieten, in denen Russland  russische Pässe verteilt und den Rubel rollen lässt, in denen Russland prorussisch gestimmte „Referenden“ erzwingt, um die selbst ernannten „Volksrepubliken“ jederzeit „befreien“ zu können. Putins Russland will zündeln und Unruhe stiften, will Kriege führen, Macht über andere souveräne Staaten ausüben und Angst verbreiten – will seine Feinde schwächen, permanent: die Nato, die USA, Europa. In einer solchen Situation, in der die Sicherheitsinteressen unserer Freunde bedroht sind, muss deutlich werden, dass uns die „Sicherheitsinteressen“ Moskaus nullkommanull interessieren.

Ein „gefrorener Krieg“ in der Ukraine? Zurück zum status quo ante? Ein hoch gerüstetes Europa in dauernder Kriegsangst? Ein totalitäres, propagandistisch verhetztes Russland, das nicht nur in der Ukraine, sondern auch permanent in Serbien und Bosnien, in Georgien und Moldau ein Europa demokratischer Staaten unterminiert? Das kann nicht das Kriegsziel in Kiew, Brüssel und Berlin, in Washington, Paris und Warschau sein.

Deshalb ist jetzt jeder Kilometer wichtig, den die ukrainischen Truppen Russland aus dem Land, möglichst zurück hinter die Grenze drängen können. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns diesseits der roten Linie (Flugverbotszone, Nato-Kriegseintritt) jeden Tag prüfen, ob wir wirklich genug tun, um die Ukraine gegen unseren Feind zu unterstützen – und nicht, ob es vielleicht schon reicht. Dass wir uns jede Stunde fragen, was wir außerdem tun können, um Putins Russland zu besiegen – und nicht, was womöglich besser zu vermeiden ist, weil es auch uns noch ein klein bisschen mehr kosten könnte.“

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von Jeffrey Frankel

Die steigenden Kosten unseres dauernden Zögerns betreffen auch die Bedingungen, unter denen der Krieg beendet, ein Waffenstillstand oder Friedensvertrag erreicht und Vertrauen zu Russland wieder gefasst werden könnte. Der Historiker Jörn Leonhard beobachtet längst nicht mehr nur einen „langen Abnutzungskrieg“, sondern auch eine materielle und ideelle Entgrenzung des Krieges, genauer: ein „Nebeneinander von Kämpfen um konkrete Territorien und geschichtspolitische Räume“ sowie „um Werte“ und „globale Energieressourcen“, „um Bilder und Meinungen“, auch um „die Widerstandsfähigkeit der westlichen Gesellschaften“ angesichts „der auch in den USA und Europa spürbaren Lasten des Krieges“, man könnte ergänzen: um die geschichtspolitische Deutung des Westens im Globalen Süden und die Tragfähigkeit der Institutionen des „Washington Consensus“, um die Gleichrangigkeit von Völker- und Menschenrechten und eine (Neu-)Ordnung der internationalen Beziehungen.

Anders gesagt: Es steht inzwischen weltweit sehr viel auf dem Spiel in diesem Krieg, was die Suche nach Wegen in den Frieden erschwert. Viele Länder, voran Indien, Indonesien, Brasilien, Südafrika, die Türkei, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate, profitieren von den Folgen des Krieges und dem löchrigen Sanktionsregime des Westens, genießen ihre indirekte Aufwertung und schaukelpolitischen Erfolge, reizen ihre ökonomischen Nationalinteressen sowohl gegenüber dem autokratischen Block (Russland, China, Iran) als auch gegenüber der Allianz der Demokratien maximalopportunistisch aus. 

Zugleich haben viele unmittelbar und mittelbar Beteiligte in diesem Krieg schon zu viel verloren, um Konzessionen leicht zuneigen zu wollen: die Ukraine vor allem Menschenleben, Volksgesundheit, Wohlstand, Alltagsglück, Russland neben seinen Soldaten und Ressourcen auch seine Menschen, die es als Bürger nicht mehr zu regieren, nurmehr als Gehorsamszwerge zu beherrschen versteht – und die USA und Europa viel Rückhalt und Reputation in ihren ökonomisch unter hohem Druck stehenden demokratischen Heimatgesellschaften. 

Vor allem aber haben alle Seiten inzwischen sehr viel zu verlieren, wenn sie sich eine Niederlage eingestehen müssten: der Westen die Glaubwürdigkeit, seine ideellen Werte und (Bündnis-)Partner nach innen und außen noch verteidigen, seinen internationalen Ordnungsverpflichtungen noch nachkommen zu können – Russland (und China) ihre autokratischen Regime selbst: „Eine aus Erschöpfung gewonnene Einsicht in die Notwendigkeit glaubwürdiger Verhandlungen ist derzeit nicht erkennbar“, schreibt daher Jörn Leonhard, „und so sind die Fenster für die Diplomatie noch geschlossen.“  

Wie könnte der Krieg enden?

Vor allem auf der Seite Russlands vermag der Historiker keine Bereitschaft zu einer Friedensinitiative erkennen, im Gegenteil: „Wladimir Putins bewusste Risikoentscheidung, mit der gesteigerten Kriegsmobilisierung den Krieg mitten in die russische Gesellschaft hineinzutragen, deutet auf eine größer werdende Eskalationsbereitschaft hin.“ 

Was bedeutet das im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Krieges – und sein mögliches Ende?

Erstens: Das Beispiel der „Münchener Konferenz“ von 1938 lehrt, dass die Kommunikation von Schwäche gegenüber einem expansionshungrigen Diktator verhängnisvolle Folgen haben kann: Adolf Hitler wertete die Bereitschaft Großbritannien und Frankreichs, dem „lieben Frieden“ zuliebe die Souveränität und territoriale Integrität der Tschechoslowakei zu opfern, geradezu als Aufforderung, seine kriegerischen Expansionspläne zu forcieren. Der Fehler der Alliierten bestand nicht darin, dass sie der Diplomatie eine Chance gaben und auch nicht darin, Konzessionen in Aussicht zu stellen – sondern darin, „keine Antwort auf einen Gegner zu besitzen, der nicht bereit war, sich auf eine solche Lösung einzulassen“, schreibt Leonhard, „und dessen Aggression durch die einseitige Konzession der Gegenseite nicht eingedämmt, sondern Im Gegenteil angefeuert wurde.“ 

Zweitens: Das Beispiel der „Münchener Konferenz“ lehrt auch, dass sich Großbritannien und Frankreich als exponierte Vertreter der internationalen Ordnung mit ihrem „Appeasement“ enorme Legitimationsverluste einhandelten. Die Völkerbund-Idee erodierte damals so gut wie das UN-Leitbild heute (die widerspruchsvolle Gleichwertigkeit von Völker- und Menschenrechten): Japan eroberte die Mandschurei (1931), Nazi-Deutschland kündigte nach Japan seine Mitgliedschaft im Völkerbund (1933), Italien zog sich aus der Genfer Konvention zurück (Abessinienkrieg 1935/36), Hitler probte im Spanischen Bürgerkrieg den Ernstfall (1936 ff.) – und nun also opferten Großbritannien und Frankreich einem Terrorregime ein anerkanntes Mitglied des Völkerbundes! Schon vielen Zeitgenossen war klar: München ist auch deshalb ein verhängnisvolles Signal: ein „fauler Frieden“, der Hitler ermuntert und die internationale Ordnung diskreditiert, an deren Abbau Deutschland, Japan und Italien arbeiteten.

Drittens: Hitler durfte sich nach „München“ umso mehr ermuntert fühlen, seine Kriegspläne voranzutreiben, weil die Siegermächte des Versailler Friedens (1919) uneinig und widerspruchsvoll auf seine Revisionspläne reagierten: Als Deutschland die allgemeine Wehrpflicht wieder einführte (1935), die den Bestimmungen des Friedensvertrags klar widersprach, antworteten Großbritannien, Frankreich und Italien einerseits mit der Bildung der „Stresa-Front“, während andererseits die Briten mit Nazi-Deutschland ein Flottenabkommen aushandelten (1935). Kein Schelm, wer hier in analogisierender Absicht an das EU-Mitglied Ungarn oder den Nato-Staat Türkei denkt.

Viertens: Die hohe Zahl der Opfer vor allem seitens der Ukraine und der von Russland geschichtspolitisch aufgeladene Kampf um historische Räume, Interessensphären, Großmachtansprüche (der im Widerspruch zur internationalen Rechtsordnung steht), der Ressourcenzweikampf zwischen dem Westen und der „antiliberalen Internationalen“ (Ralf Fücks), die weitreichenden weltweiten Implikationen und nicht zuletzt der Anspruch auf „Gerechtigkeit“ nach dem Völkerrechtsbruch Russlands – sehr viele Verletzungen und Interessen sehr vieler Seiten, materieller, strategischer und ideeller Art, stehen einem Waffenstillstand, zumal einem Frieden im Wege.

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Der Gedanke eines „gütigen Vergessens“ auf Seiten der Ukraine, mit denen die Kriegsparteien im 17. Jahrhundert den Westfälischen Frieden aushandelten, erscheint derzeit genauso abwegig wie der Gedanke, dass Russland in der Ukraine einen „iustus hostis“ erblickt, einen gerechten Feind, mit dem es auf Augenhöhe in Waffenstillstandsgespräche einsteigt, einen Frieden anstrebt, gar eine Aussöhnung anstrebt. Zumal Potentat Putin keine Verheerungen auf seinem Territorium befürchten und keine Rücksicht auf (bisher überschaubare) Belastungen der Bevölkerung nehmen muss, schon gar nicht auf das Meinungsbild der Russen: Seiner Bereitschaft zur Verlängerung des Kriegs und zum Ausbau der Kriegswirtschaft, zur geschichtspolitischen Ausbeutung postsowjetischer Phantomschmerzen und zur Konstruktion panrussischer Zarenreichsfantasien, kurz: zur gewaltsamen Eroberung weiterer Gebiete steht – abgesehen von einer Palastrevolution und einer entschlossenen Reaktion des Westens – nichts im Wege. 

Fünftens: Verschlechtert sich die Lage der Ukraine an der Front, verstetigt sich die Ressourcenkrise des Landes, steigert sich die Erschöpfung der Soldaten und der Zivilbevölkerung in der Ukraine – so deutet das noch nicht zwingend auf eine schnelle Niederlage hin. Im Gegenteil: Es wäre wahrscheinlich, dass die Ukraine mit dem Verweis auf die Zahl der Opfer und die Opferbereitschaft der Bevölkerung, vor allem aber mit Blick auf das ihr drohende Schicksal der Zwangsrussifizierung ihre Durchhaltefähigkeit noch einmal erhöhte, dass die Gewalt noch einmal an Intensität gewänne, dass die Verluste noch einmal zunähmen, dass die Hoffnung auf eine überraschende Wende, auf mehr Munition oder auf eine Wunderwaffe noch ein letztes Mal zirkulierte – dass der (Opfer-)Mut der Verzweiflung regierte. Noch ist es nicht soweit.

„Munitionskrisen waren in neuzeitlichen Krisen geradezu endemisch“, schreibt Historiker Leonhard, doch die meisten „Entscheidungsschlachten“ (von „Kunersdorf“ bis „Stalingrad“) führten gerade keine Entscheidung herbei, sondern verlängerten den Krieg. Die „materielle Überlegenheit“ einer Partei „wirkte sich in vielen Kriegen eher langfristig aus“, so Leonhard: „Erst eine anhaltende Versorgungskrise konnte den Glauben der Soldaten an die Kompetenz der eigenen Führung erschüttern“ – in diesem Fall wäre damit vor allem die fehlende Kompetenz des Westens gemeint, eine bisher entschlossen verteidigungsbereite Ukraine mit ausreichend Waffen zu versorgen.

Sechstens: Der Westen hat die Ukraine trotz seiner technologischen und wirtschaftlichen Überlegenheit nicht in die Lage versetzen wollen, gegen die russischen Angreifer und Besatzer in die (Gegen-)Offensive zu kommen – es spricht daher viel dafür, dass die Ukraine am langen Ende des Krieges mit „eingefrorenen“ territorialen Verlusten wird leben müssen – und dass speziell die EU das bekommt, was sie verdient: einen „faulen Frieden“ für Europa. Leonhard schreibt, dass die Zahl der Kriege, die mit Friedensverträgen und Friedenskonferenzen endeten, vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert von 30 Prozent auf 80 Prozent stieg, dann wieder sank auf 40 Prozent – und nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch bei 15 Prozent liegt. Israel/Palästina, Iran/Irak, Indien/Pakistan, Südkorea/Nordkorea, Bosnien-Herzegowina – die Liste ließe sich leicht fortsetzen: alles schwelende Konflikte. Wer auch immer jetzt ein „Minsk III“ ins Spiel bringt, verkennt daher nicht nur Putins Kriegsziele. Er leistet auch einen doppelten Offenbarungseid: Die Ukraine hat diesen Krieg mit Billigung des Westens verloren – und Völkerrechtsbrüche werden von den Hütern der internationalen Ordnung (mal wieder) geduldet, sogar vor der eigenen Haustür und zu ihrem eigenen Schaden. Und er verkennt, dass mit einem Waffenstillstand nur eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erreicht, die Lage keinesfalls befriedet wäre, zuletzt für die Menschen in den eroberten Gebieten, aber auch nicht in der Ukraine, nicht in Georgien und Moldawien, nicht in Europa: „Jeder Waffenstillstand unterhalb eines formalen Vertrags verlängert das mögliche Revisionskalkül“, schreibt Leonhard, „und macht damit die Gewaltanwendung auch unterhalb der Schwelle eines großen Krieges als Option wahrscheinlicher.“ 

Fazit: Die endemische Geschichtsblindheit in den politischen und diplomatischen Führungsetagen des Westens ist und bleibt auch am Übergang ins dritte Kriegsjahr die Basisschwäche des Westens, darauf ist an dieser Stelle seit (mehr als) zwei Jahren wieder und wieder hingewiesen worden: Die Regierenden haben Karriere gemacht mit dem illusionären Generalgedanken an ein „Ende der Geschichte“, und die gedanklichen Pfadabhängigkeiten der politischen Kaufmannslogik sind in Brüssel und Berlin seit drei Jahrzehnten so mächtig geworden, dass man mit der machtvollen Rückkehr von Jacob Burckhardts „Potenzen“ immer noch nicht wirklich rechnen will: Kultur, Religion, Staat, Nation und Geschichtspolitik waren und sind die entscheidenden „Treiber“ und „Macher“ von Geschichte – und wenn Europa davor die Augen verschließt, ist es schon sehr bald zu einer Rolle als Zaungast dieser Geschichte verdammt.

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Oder, um es noch einmal mit Jörn Leonhard zu sagen: „Erodiert der Wille des Westens,… Russland zur Einsicht zu zwingen, dass eine Aggression militärisch nicht siegreich sein kann, wird dies zur wichtigsten Ressource für Russland werden… Die Folgen könnten verheerend sein, nicht nur für die Sicherheit der europäischen Demokratien, sondern für die Glaubwürdigkeit jeder internationalen Ordnung nach Regeln in einer multipolaren Welt.“  


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