Es ist fast fünf Jahre her, dass dem westlichen Verteidigungsbündnis von höchster Stelle eine schlimme Diagnose bescheinigt wurde. Niemand geringeres als Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron befand die Nato 2019 noch als „hirntot“. Anlass für die drastischen Worte waren damals die Geschehnisse in Syrien, wo die beiden Nato-Mitglieder USA und Türkei ohne jede Absprache mit ihren Partnern handelten.
Dass aus dem siechen Patienten inzwischen ein agiles, wenn auch noch nicht wirklich voll handlungsfähiges westliches Bündnis mit inzwischen 32 Mitgliedern geworden ist, hat zwar nichts mit Macron zu tun, sondern mit Wladimir Putin. Aber seit dessen Überfall auf die Ukraine stellt sich die lange gestellte Frage nicht mehr, wozu die Nato eigentlich gut sein soll. Die Antwort hat Putin auf brutale Weise geliefert und damit alle Lügen gestraft, die glaubten oder hofften, dass mit dem Ende des Kalten Krieges die Grundlage für das Bündnis entfallen sei.
Wenn die Nato am Donnerstag das 75. Jahr ihres Bestehens würdigt, ist sie so stark unter Druck wie nie zuvor in ihrer Geschichte – aber sie ist auch so stark und entschlossen wie nie. Der Eintritt der lange neutralen Staaten Schweden und Finnland hat nicht nur die Ostflanke an der Grenze zu Russland gestärkt, sondern auch ein Signal nach Moskau gesendet: Wir lassen uns von euch nicht einschüchtern.
Schneller schlau: Nato
Der Kurzname Nato steht für
North
Atlantic
Treaty
Organization
– auf Deutsch: Organisation des Nordatlantikvertrags
Die Nato ist eine Allianz von europäischen und nordamerikanischen Ländern. Grundsätzlich heißt es bei der Nato, eine Nato-Mitgliedschaft sei offen für „jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen.“
Um Mitglied zu werden, muss man den sogenannten „Membership Action Plan“ der Nato erfüllen. Zu diesem Plan wird man von der Nato eingeladen.
Mit Schwedens Beitritt im März 2024 und dem Beitritt Finnlands im April 2023 hat die Nato aktuell insgesamt 32 Mitglieder.
Seit 1949 sind Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA dabei. Sie gelten als Gründungsmitglieder.
Später traten Griechenland und die Türkei (1952), Deutschland (1955), Spanien (1982), Polen, die tschechische Republik und Ungarn (1999), Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien (2004), Albanien und Kroatien (2009), Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) bei.
Stand: 11. März 2024
Die Nato und all ihre Mitglieder haben sich dazu verpflichtet, dass ein Angriff gegen eines oder mehrere ihrer Mitglieder einen Angriff gegen alle darstellt. Dies ist das sogenannte Prinzip der kollektiven Selbstverteidigung. Es ist in Artikel 5 des Washingtoner Vertrags festgeschrieben und fand in der Geschichte der Nato erst einmal Anwendung: als Antwort auf die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 in den USA.
Laut Angaben der Nato beraten sich die Mitglieder täglich zu Sicherheitsfragen. Demnach kommen hunderte Beamte sowie zivile und militärische Experten jeden Tag zusammen.
Ein Nato-Beschluss ist „der Ausdruck des kollektiven Willens aller Mitgliedsstaaten“, schreibt die Nato fest. Alle Entscheidungen werden konsensbasiert getroffen, also nach Diskussion und Konsultation zwischen den Mitgliedsländern. Bei der Nato gibt es keine Abstimmungen. Ein Beschluss ist immer das Ergebnis von Beratungen, bis eine für alle akzeptable Entscheidung getroffen ist.
Der Nato-Generalsekretär ist der höchste internationale Beamte im Bündnis. Er ist das öffentliche Gesicht der Nato, leitet den Internationalen Stab der Organisation und verantwortet die Steuerung der Beratungen und die Entscheidungsfindung in der Allianz.
Die Nato hat sich dazu verpflichtet, nach friedlichen Lösungen von Konflikten zu suchen. „Doch wenn diplomatische Anstrengungen scheitern, hat sie die militärische Macht, Operationen des Krisenmanagements durchzuführen“, heißt es bei der Nato. Diese müssen den eigenen Auflagen zufolge „im Rahmen der Beistandsklausel im Gründungsvertrag der Nato – Artikel 5 des Washingtoner Vertrags – oder mit einem Mandat der Vereinten Nationen erfolgen, entweder allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Ländern und internationalen Organisationen.“
Hilfe für Kiew bröckelt
Allerdings steht es mit der noch bei Kriegsausbruch gezeigten demonstrativen Geschlossenheit des Bündnisses inzwischen nicht mehr zum Besten. Die Hilfe für die Ukraine belasten die Haushalte der Nato-Mitglieder zunehmend. Auch ist die zwischenzeitlich aufkeimende Hoffnung, die Ukraine könne den Krieg mit westlicher Hilfe für sich entscheiden, wachsendem Zweifel gewichen. Das Momentum auf dem Schlachtfeld hat Russland sich zurückerobert – mit einem mörderischen Einsatz immer neuer Truppen, die an die Front geschickt werden.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnet die militärische Lage bei der Sitzung der Nato-Außenminister in Brüssel als „herausfordernd“ – die klassische Chiffre für schwerwiegende Probleme. Putin beobachte die nachlassende Stimmung zugunsten der Ukraine genau und setze darauf, dass den westlichen Unterstützern irgendwann die Geduld verloren gehe, warnte Stoltenberg. Deshalb fordert er zum Ende seiner Amtszeit einen „robusten Nato-Rahmen mit Finanzzusagen“ ein. Er nannte zwar keine Zahl, aber in Brüsseler Diplomatenkreisen wird die Summe von 100 Milliarden Euro genannt, aufzubringen binnen fünf Jahren. Verwendet werden sollen die Mittel für Waffenlieferungen und Finanzhilfen zugunsten der Ukraine.
In Deutschland fielen die ersten Reaktionen positiv aus. „Strategisch ist es sinnvoll, dass die Unterstützer der Ukraine durch das Aufbieten einer großen Summe deutlich machen, dass sie die Militärhilfe nachhaltig und dauerhaft finanzieren können“, sagt etwa Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. „Das durchkreuzt Putins Kalkül, die Hilfe für die Ukraine würde nachlassen“. Völlig ungeklärt sei aber die Finanzierung eines solchen Fonds, warnte Schmid. „Schon jetzt sind viele EU-Länder hier an die Grenzen der europäischen Schuldenregeln gestoßen. Und erst recht löst dieser Vorschlag nicht das Problem mangelnder politischer Unterstützung aus dem US-Kongress“, so der SPD-Politiker. „Es kann sein, dass hier die EU oder die einzelnen EU-Länder noch in diesem Jahr stärker gefordert sein werden.“
Wegen solcher offenen Fragen sehen Beobachterinnen wie DGAP-Sicherheitsexpertin Stefanie Babst den scheinbar großen Wurf kritisch. Hinter dem Vorstoß stecke vor allem ein „Deliverable“ zum 75. Geburtstag, das die Mitglieder in den Folgemonaten zum Teil wieder zerpflücken würden, urteilte Bapst im WirtschaftsWoche-Interview. Eigentlich solle es bei dem Gipfel in Washington um Beitrittsverhandlungen der Ukraine gehen. „In Washington und Berlin gibt es nach wie vor Bedenken bei diesem Thema, deswegen wird möglichst nach etwas anderem gesucht, was mit einem attraktiven Label verziert werden kann“.
Grundsätzlich gäbe es nicht viel an dieser Ankündigung zu mäkeln, sie käme laut der Nato-Expertin nur zu spät und wäre mit ähnlichen gemeinsamen Initiativen von EU und der G7 unkoordiniert. Finanzielle Planungssicherheit wäre für die Ukraine zwar wichtig, aber mehr als finanzielle Absichtserklärungen der Bündnispartner bräuchte sie jetzt mehr Waffen.
Unabhängig von Trump
Das zielt auf die weit verbreitete Befürchtung der Europäer, dass nach einer Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Hilfe der USA ganz oder zu erheblichen Teilen entfallen könne. Die jüngste Blockade von 60 Milliarden Dollar für die Ukraine im US-Kongress wirken nach. Für die rüstungspolitische Sprecherin der Grünen, Sarah Nanni, ist vorbeugende Unabhängigkeit von Trump ein nachvollziehbares Argument: „Jeder Vorschlag, wie eine existenzsichernde Unterstützung der Ukraine aussehen kann, die weniger von den USA abhängig ist, ist hoch willkommen“, sagt Nanni. „Die Lage in der Ukraine ist sehr angespannt, da darf es keine Hemmungen geben über neue Wege nachzudenken“. Die Sicherheit der Ukraine und die weitere Entwicklung für Europa seien „eng miteinander verbunden“, sagt die Grünen-Politikerin. „Schon aus eigenem Interesse sollten die Nato-Staaten diese Verantwortung weiterhin sehr ernst nehmen.“
Ob alle Mitglieder des Verteidigungsbündnisses dem Vorschlag Stoltenbergs folgen, wird sich bei der nächsten Vollversammlung im Sommer in Washington zeigen. Bislang kommt der Löwenanteil der Hilfe zugunsten Kiews aus den USA und aus Deutschland, wohingegen große Mitgliedsstaaten wie Frankreich, Italien oder Spanien eher durch große Worte, aber geringe Zahlungen auffallen. Zwar hat sich die EU nach langen, schwierigen Verhandlungen kürzlich auf ein Hilfspaket von 50 Milliarden Euro für die Ukraine geeinigt. Aber die Erhöhung dieses EU-Sondertopfs für Waffenlieferungen (EPF) ist hochumstritten. Am Ende konnte Deutschland als großzügiger Geber durchsetzen, dass bilaterale Hilfen auf die Beiträge angerechnet werden können. Ob dies dann auch für die Finanzierung von Stoltenbergs 100-Milliarden-Fonds für die Nato gilt, wird sich beim nächsten Nato-Gipfel zeigen.
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